Jostein Gaarder über seinen neuen Roman

Trauerfeiern gegen die Einsamkeit

Der norwegische Schriftsteller Jostein Gaarder auf der Leipziger Buchmesse 2017
Der norwegische Schriftsteller Jostein Gaarder auf der Leipziger Buchmesse 2017 © dpa/ picture alliance/ Jens Kalaene
Von Irene Binal |
Mit dem Roman "Sophies Welt" ist Jostein Gaarder in den 90er-Jahren bekannt geworden. In seinem neuen Buch "Ein treuer Freund" geht es um einen schrulligen Mann, der die Beerdigungen fremder Leute besucht. Warum er das macht, erklärt Gaarder bei einem Spaziergang über einen Berliner Friedhof.
"Ich hatte viele, viele Jahre lang ein Büro in der Innenstadt von Oslo und ging jeden Tag durch einen großen Friedhof. Für mich ist ein Friedhof wie ein Park, es geht nicht unbedingt um den Tod, sondern oft mehr um das Leben."
Der Alte St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg – eine Insel der Ruhe. Die Bäume rauschen, die Vögel zwitschern, nur die S-Bahn, die ab und zu vorbeifährt, erinnert daran, dass man sich mitten in der Stadt befindet. Eine Trauergesellschaft hat sich vor der Kapelle versammelt und für Jostein Gaarder ist es nicht schwer, sich seinen Protagonisten Jakop hier vorzustellen, wie er sich unter die Angehörigen mischt:
"Jakop kommt aus einem engen Tal in Norwegen. Und dort ist es normal, dass alle Leute im Dorf zu einer Beerdigung gehen. Er nimmt auch an den Trauerfeiern nach der Beisetzung teil. So kompensiert er seine Einsamkeit."
Dieser Jakop ist ein liebenswerter und melancholischer Held, klug, zurückhaltend und gefangen in seiner Isolation. Sein einziger Freund ist Pelle, eine Handpuppe:
"Pelle ist sehr schnell im Kopf, sehr intelligent, er hat ein gutes Gedächtnis. Jakop selbst ist schüchtern ist und depressiv, unsicher in sozialen Beziehungen. Pelle repräsentiert Jakops Sonnenseite aus seiner Kindheit, während Jakop selbst die dunkle Seite repräsentiert."
Jostein Gaarder ist 64 Jahre alt, ein kleiner, schlanker Mann mit grauem Bart, funkelnden Augen und einem breiten Lächeln. Das Thema Einsamkeit beschäftigt ihn – und die Grabsteine auf dem St.-Matthäus-Friedhof sind für ihn Ausdruck jener Einsamkeit, die jeder Mensch in sich trägt:
"In gewisser Weise stehen alle Menschen ganz allein zwischen Himmel und Erde. All die Leute, die hier begraben sind, kommen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, aber was sie gemeinsam haben, ist, dass sie namenlos in die Welt kamen und dass sie diese Welt auch in gewisser Hinsicht namenlos verlassen haben."

Leben und Tod sind nah beisammen

Ganz besonders beeindruckt den norwegischen Autor der so genannte "Garten der Sternenkinder" im hinteren Teil des Friedhofs, wo totgeborene Kinder bestattet werden. Die kleinen Gräber sind liebevoll geschmückt, mit Spielzeug, Windrädern, Kuscheltieren, Windspielen, die beim leisesten Luftzug zu klingen beginnen.
"Das ist etwas Besonderes. Es sieht aus wie ein Spielplatz, ein Miniatur-Spielplatz. Der ganze Friedhof ist am Leben, wegen all der Dinge, die sich im Wind bewegen. Es ist sehr still, aber nicht regungslos."
Leben und Tod kommen hier ganz nah zusammen – wie auch in Jostein Gaarders Roman. Denn trotz des düsteren Rahmens ist dieser Roman alles andere als bedrückend, vielmehr voller Witz, Charme und liebevoller Beobachtungen:
"Ich würde sagen, es geht um das Leben. Jakop besucht all diese Beerdigungen, weil er mit all den anderen am Leben sein will. Und weil so viele Familien vorkommen, konnte ich viele Geschichten erzählen. Es gibt viele Geschichten in der Geschichte."
Jostein Gaarder ist ein begeisterter Geschichtenerzähler. Und so macht er sich auf dem St.-Matthäus-Friedhof auf die Suche nach der Grabstätte zweier Männer, die ebenfalls Geschichten liebten: die Gebrüder Grimm:
"Es muss hier dahinter sein... Ja, Jacob Grimm. Das ist wirklich ein historischer Ort!"
Zwei schlichte, schwarze Grabsteine, davor ein paar Blumen: Jostein Gaarder ist tief beeindruckt, denn Märchen und Sagen spielen für ihn eine große Rolle:
"Hier, vor dem Grab der Gebrüder Grimm, kann man darüber nachdenken, wie Märchen gewandert sind. Die gleichen Geschichten gibt es in Indien und in Europa. Unser Gehirn ist für Geschichten ausgelegt. Wenn man mir viele Details über Berlin erzählt, höre ich zu, aber ich würde es wieder vergessen. Aber wenn man mir Geschichten über Berlin erzählt, erinnere ich mich mein ganzes Leben lang daran. Unsere wichtigsten Geschichten sind so etwas wie eine gemeinsame Erinnerung."

Geschichten und Sprache verbinden

Umso unverständlicher ist für ihn, dass die Tradition des Märchenerzählens immer mehr vernachlässigt wird:
"Wenn ein Kind auf den Knien seiner Eltern oder Großeltern sitzt und diese ihm vorlesen oder Geschichten erzählen, ist das auch eine Frage der Zugehörigkeit. Es ist eine Frage, wie man Dinge gemeinsam erlebt."
Vor dem Ausgang des Friedhofs lädt ein kleines Café zum Verweilen ein. Jostein Gaarder gefällt die fröhlich-bunte Dekoration:
"Das ist sehr gemütlich, wie ein Zuhause, dieses Café. Ich hätte gern - was sagt man? schwarzer Kaffee? - Kaffee - Kaffee. Schwarz. – Okay…. Dankeschön. Sehr schön. Danke."
Beim Kaffee kommt Gaarder noch einmal auf sein Lieblingsthema zu sprechen: die Sprache, die Etymologie, mit der er sich in seinem Roman ausführlich beschäftigt:
"Es ist erstaunlich, wie ganz normale Worte, die wir im Norwegischen oder im Deutschen verwenden, sich überall wiederfinden. Zum Beispiel die Worte für Vater, Mutter, Schwester, Bruder – von Island bis Sri Lanka findet man diese indogermanischen Worte. Sprachen haben sich wieder und wieder auseinanderentwickelt, aber je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto näher rücken die Zweige dieser Sprachfamilien zusammen."
In der Sprache also sind wir alle miteinander verbunden, ebenso wie in Erzählungen und Geschichten, die sich in allen Regionen der Welt irgendwie ähneln. Über solche Fragen macht sich Jostein Gaarder Gedanken, vor allem beim Schreiben, denn durch seine Figuren kann er vieles sagen, was ihm selbst vielleicht gar nicht so klar war:
"Manchmal kann eine Figur in einem Dialog klügere Antworten geben als ich es selbst könnte. Darum schreibe ich. Es ist eine Möglichkeit, sein Gehirn zu kanalisieren. Einen Roman zu schreiben ist eine Art des Nachdenkens."

Jostein Gaarder: Ein treuer Freund. Roman
Hanser Verlag, München 2017
270 Seiten, 22 Euro

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