"Hier gibt es wirklich Massenarmut"
Nach dem Ende des internationalen Hilfsprogramms für Griechenland gibt es für die Bevölkerung wenig Aussichten auf eine Verbesserung ihrer Lage. Von der grassierenden Armut, die den Alltag sehr stark dominiert, spricht der Journalist Niels Kadritzke, der zeitweise im Land lebt.
Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und den niedrigen Löhnen bestimmen in Griechenland Armut und soziale Exklusion den Alltag. Auf den ersten Blick grenze es an ein Wunder, dass die Griechen nach acht Jahren Hilfsprogramm immer noch irgendwie durchhielten, sagte der Journalist und Griechenland-Kenner Niels Kadritzke im Deutschlandfunk Kultur.
Apathie und Krise
"Wenn man sich überlegen würde, dass ähnliche soziale Verwerfungen in Deutschland eingetreten wären, ich glaube, dann hätten wir ein hartes rechtsradikales Problem, was es in Griechenland so nicht gegeben ist." Dass die Griechen relativ apathisch auf die Krise reagierten, habe viel mit der Dauer über viele Jahre zu tun. Die Menschen hätten sich der Lage angepasst, sagte Kadritzke. (gem)
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Heute, am 20. August, endet es ja, das dritte Hilfsprogramm für Griechenland, wir haben es schon in den Nachrichten gemeldet. Acht Jahre lang hat sich das Land mühsam von einem Programm zum nächsten geschleppt, und dabei wurden die Forderungen der Geldgeber erfüllt, die Renten gekürzt, die staatlichen Löhne und der private Mindestlohn gesenkt, die Zahl der Staatsbediensteten reduziert, und auch die Sozialleistungen gekürzt.
Eine neue Rentenkürzung ist vorgesehen, und 400.000 gut ausgebildete junge Griechen haben seitdem das Land verlassen. All solche Maßnahmen und Entwicklungen haben Nebenwirkungen: Arbeitslosigkeit und Armut. War das alles alternativlos, wie man in der Politik gern sagt? Das wollen wir jetzt wissen von dem Journalisten und Griechenland-Kenner Niels Kadritzke, der dort immer wieder für längere Zeit auf der Kykladen-Insel Syros lebt, und er ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!
Niels Kadritzke: Guten Morgen!
von Billerbeck: Die Arbeitslosigkeit liegt nach wie vor bei 20 Prozent, der gesetzliche Mindestlohn in Griechenland bei 3,39 Euro. Armut und soziale Exklusion sind Alltag. Grenzt es an ein Wunder, dass die Griechen nach acht Jahren Hilfsprogramm immer noch irgendwie durchhalten?
Kadritzke: Auf den ersten Blick grenzt es an ein Wunder. Wenn man sich überlegen würde, dass ähnliche soziale Verwerfungen in Deutschland eingetreten wären, ich glaube, dann hätten wir ein hartes rechtsradikales Problem, was in Griechenland so nicht gegeben ist. Man muss dazusagen, dass Griechenland, man kann fast sagen, dass die Griechen so relativ apathisch die Entwicklung hingenommen haben, hat etwas mit der Dauer zu tun.
Man hat sich in irgendeiner Weise angepasst. Es hat aber auch damit zu tun, das Stichwort, was Sie gegeben haben, war es alternativlos? Eigentlich gibt es keine Antwort darauf, ob es eine realistische Alternative gegeben hat. Es gab die Alternative, die im Raum stand lange Zeit, raus aus der Eurozone, radikale Währungsabwertung und dann ein Neustart. Aber das wurde von der Bevölkerung niemals als reale Alternative akzeptiert, und es wäre krachend schief gegangen nach meiner Einschätzung.
Rückgang der Einkommen
von Billerbeck: Nun kennen Sie Griechenland genau. Ich habe ein paar Stichworte schon genannt. Beschreiben Sie uns doch mal im Alltag, was das bedeutet hat, was da in den vergangenen acht Jahren geschehen ist?
Kadritzke: Am sichtbarsten ist natürlich der Rückgang der Masseneinkommen. Das merkt man überall, auch jetzt gerade in den Ferienmonaten. Die Griechen machen höchstens noch eine Woche Ferien statt wie früher zwei Wochen Ferien. In den Restaurants bestellen sie nicht mehr so, dass die Tische zusammenkrachen, sondern sie überlegen sich genau, was sie essen. Die Fastfood-Restaurants sind voll, die anderen sind eher mäßig besetzt. Man merkt es überall, und was Sie erwähnt haben, nämlich die niedrigen Mindestlöhne, da muss man sogar noch verschärft dazusagen, wenn dann diese Mindestlöhne ausgezahlt werden, es gibt X Betriebe, jetzt vor allem im Tourismussektor, die noch weniger bezahlen.
Ich kenne einen Kellner in Paros, der zehn bis zwölf Stunden pro Tag arbeitet, sechs Tage in der Woche, und 35 Euro pro Tag bekommt. Und am siebten Tag, wo er eigentlich frei haben soll, sagt ihm der Chef, jetzt putz mal das Restaurant. Die Arbeitsverhältnisse sind katastrophal, und ähnlich sieht es aus im öffentlichen Bereich. Der Gesundheitssektor hat stark gelitten, und der Alltag in Griechenland ist wirklich sehr hart geworden.
von Billerbeck: Syriza spricht ja von einer humanitären Katastrophe. Kann man dem zustimmen?
Kadritzke: Dem kann man in bestimmten Bereichen zustimmen. Vor allem der ärmste Teil der Gesellschaft ist noch mal abgestürzt, und hier gibt es wirklich Massenarmut, die aufgefangen wird durch sehr bewundernswerte Privatinitiativen. Wenn das nicht wäre, wäre die Massenarmut in Griechenland viel sichtbarer. Man sieht es nicht in Form von Bettlern auf der Straße, aber die Massenarmut ist da.
Und vor allem, was noch dazu kommt, in den Krisenjahren hat sich nicht nur die Armut verschärft, sondern die Spreizung hat sich noch verschärft, das heißt, arm und reich sind weiter auseinandergedriftet. Die Ungleichheit hat zugenommen in der Krise, und das ist eines der bedenklichsten Zeichen für die Moral der Gesellschaft.
Kampf um die Deutungshoheit
von Billerbeck: Nun wird ja immer gesagt, dass von diesem Tag an die Griechen wieder das Steuerrad für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ihres Landes selbst in die Hand nehmen könnten. Die Rückzahlung der Schulden, die ja sich da aufgehäuft haben, die ist ja verlagert worden auf die nächste Generation, also beginnt erst 2032, glaube ich.
Kadritzke: Ja.
von Billerbeck: Kann man denn da überhaupt tätig werden, wenn man weiß, man trägt da so einen Rucksack mit sich herum?
Kadritzke: Es ist so, es gibt einen Kampf um die Deutungshoheit, hat Griechenland jetzt seine volle Souveränität erreicht? Das hat die Regierung am Anfang gesagt, inzwischen drückt sie es bescheidener aus. Die Opposition sagt sogar, wir haben schon ein viertes Memorandum, also ein viertes Sparprogramm unterschrieben wegen der Verpflichtungen auf lange Sicht. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Griechenland ist ein Stück souveräner geworden, kann mehr gestalten, aber der Spielraum ist extrem eng.
Und vor allem muss man eins bedenken, das hat der EZB-Vizepräsident ihnen gesagt: Ihr verhandelt ab sofort nicht mehr mit der Troika, also mit den Gläubigern, sondern mit den Märkten. Und alles, was Griechenland macht, wird jetzt sofort von den Märkten bewertet, und deswegen ist es wichtig zu sehen, Griechenland könnte zurzeit nicht seine Staatsanleihen auf den Märkten loswerden, die tragbar sind. Also, man hat eigentlich geplant, die Regierung Tsipras hat eigentlich geplant, noch vor dem 20. August zweimal Siebenjahresanleihen aufzulegen. Man hat drauf verzichtet, weil die Zinsen zu hoch gewesen wären und es ein Signal gewesen wäre, Griechenland ist noch nicht über den Berg. Und in der Tat, es ist noch nicht über den Berg.
Ab 2030 neue Verhandlungen
von Billerbeck: Kann sich Griechenland trotzdem erholen, oder ist es tatsächlich denkbar, dass das Land sich aus der Krise herausspart? Oder ist das Wunschdenken, bei der Lage, die Sie beschrieben haben?
Kadritzke: Beides. Es ist ein Wunschdenken insofern, als Griechenland sich mit Sicherheit nicht so raussparen kann, dass es alles zurückzahlt, was es jemals an Krediten aufgenommen hat. Deswegen ist allen Experten völlig klar, im Jahr 2030 bis '32 wird es eine neue Bewertungsrunde geben und wahrscheinlich einen neuen Schuldenschnitt, weil einfach die hohen Sparauflagen, die sich ausdrücken in einem Primärüberschuss im Haushalt von 3,5 Prozent pro Jahr, und später reduziert auf 2,2 Prozent. Solche Überschüsse wurden noch von keinem Land der Welt erreicht. Man ist eigentlich sich völlig darüber im Klaren, dass bis 2030 eine Krise vermieden wird – danach muss neu verhandelt werden.
von Billerbeck: Das klingt, als ob man diese Schulden in den Wind schreiben kann. Niels Kadritzke war das, seit vielen Jahren immer wieder in Griechenland lebender Journalist mit seinen Einschätzungen, was die drei Hilfsprogramme für Griechenland gebracht haben und wie die Zukunft aussieht. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.