Der Journalist Thierry Chervel, geboren 1957, hat in Berlin Musikwissenschaften studiert. Er war Redakteur bei der "taz" (Film, Musik, Tagesthemen), freier Autor bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und anderen Zeitungen, Kulturkorrespondent für die "Süddeutsche Zeitung" in Paris. Thierry Chervel ist Mitbegründer des im Jahr 2000 Online gestarteten Kulturportals "Perlentaucher".
"Wachsender Gegensatz zwischen Städten und dem Rest des Landes"
Städte wie Bonn, Köln und Düsseldorf wollen mehr Flüchtlinge aufnehmen. Sie folgten damit einem europäischen Trend, sagt Kulturjournalist Thierry Chervel. Es zeige sich, dass einige größere Städte anders handelten als ihre Regierungen - und das restliche Land.
In ganz Europa gebe es Städte, die sich für die Aufnahme von Flüchtlingen offener zeigten als ihre Länder, sagt unser Studiogast, der Journalist Thierry Chervel. "Ich finde, das ist ein sehr interessantes Phänomen, das nicht nur in Deutschland stattfindet ", beschrieb der Gründer des Kulturportals "Perlentaucher" im Deutschlandfunk Kultur - und sieht einen Trend. Er habe im Schweizer Online-Magazin "Watson.ch" gelesen, dass beispielsweise die Stadt Barcelona ein Flüchtlingsschiff aufgenommen habe, das der Staat nicht haben wollte. "In Italien gibt es Konflikte zwischen Städten wie Neapel und Palermo und dem Zentralstaat." Italien nehme nicht einmal mehr Militärschiffe der eigenen Marine auf oder lasse sie in Häfen einfahren, wenn Flüchtlinge an Bord seien.
Aufruf vom Rhein
Auch in Bonn, Köln und Düsseldorf haben die Stadtoberhäupter gerade einen Aufruf verfasst, in dem sie der Bundesregierung anbieten, in Not geratene Flüchtlinge aufzunehmen. Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker sowie die Oberbürgermeister Thomas Geisel (Düsseldorf) und Ashok Sridharan (Bonn) fordern zudem, dass die Seenotrettung im Mittelmeer aus humanitären Gründen wieder ermöglicht wird. "Wir wollen ein Signal für Humanität, für das Recht auf Asyl und für die Integration Geflüchteter setzen", heißt es in dem Appell.
Diese Entwicklung verdeutliche einen Konflikt innerhalb der Gesellschaften, der sich auch bei anderen Themen zeige, sagte Chervel und verwies auf den Brexit: "London wäre niemals aus der Europäischen Union ausgetreten." Wäre die britische Hauptstadt mit rund acht Millionen Einwohnern ein unabhängiger Staat, hätte sich die Brexit-Frage nie gestellt. "Das heißt, es gibt einen offenbar immer stärkeren Gegensatz zwischen den Städten, die kosmopolitisch sind und mit solchen Problemen umgehen können und sogar wollen, wie sich hier zeigt – und dem Rest des Landes, der irgendwie in dieser identitären Verkrampfung sich befindet." Es seien vor allem die Briten in den Midlands und in Nordengland gewesen, die für den Brexit gestimmt hätten, vor allem kleinere Städte und ländliche Gegenden. Das sei ähnlich wie in den USA bei der Anhängerschaft von US-Präsident Donald Trump.
Populismus der demokratischen Idee
"Ich glaube, dass die westlichen Gesellschaften in einem ganz tiefen Dilemma stecken, aus dem sie versuchen sollten, herauszukommen, ohne ihre demokratischen Prinzipien aufzugeben", sagte Chervel angesichts der Flüchtlingsdebatte. Das sollte die Leitlinie der Politik sein. Gebraucht würden ein gewisser "Populismus der demokratischen Idee", aber auch europäische Regelungen und Kompromisse, forderte der Journalist. "Das müssen die Politiker auch klar ansagen, statt abzudriften in Richtung Rechtspopulismus." Das gelte ebenso für den Linkspopulismus. (gem)
Hören Sie hier die gesamte Sendung "Studio 9 - Der Tag mit ..." mit Thierry Chervel:
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