"In China geht es eher ruppig zu"
Durch die Kulturrevolution sei in China der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren gegangen, sagt die Journalistin Ruth Kirchner, die zehn Jahre lang für die ARD aus Peking berichtete. Die Zeit, in der man sich gegenseitig an die Behörden verriet, habe Spuren hinterlassen.
Chinas Wanderarbeiter und der Smog in Peking gehörten zu den Themen der ARD-Hörfunkkorrespondentin Ruth Kirchner. Zehn Jahre lang gab sie den Menschen in Deutschland einen tiefen und auch persönlichen Einblick in die chinesische Politik und Gesellschaft. Bei Im Gespräch erzählte sie Ulrike Timm von ihrem Alltag und ihren prägenden Erlebnissen in diesem faszinierenden Land.
"Es gibt schon so eine Ellenbogenmentalität"
Allein die schiere Größe Chinas, mit insgesamt 1,4 Milliarden Einwohnern und der 22-Millionen-Metropole Peking, sei beeindruckend – sie habe auch spürbare Folgen für das soziale Miteinander:
"Man muss sich seinen Platz nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Alltag erkämpfen. Es ist eigentlich immer überall voll, es gibt lange Schlangen. Da gibt es schon so eine Ellenbogenmentalität, der Umgang miteinander ist nicht immer unbedingt höflich. In China geht es eher ruppig zu – und man ist sehr, sehr stark leider eher auf seinen eigenen Vorteil bedacht."
Das resultiere auch aus der jüngeren Geschichte, über die man in China nicht gern spreche:
"Das hat auch zu tun mit der Kulturrevolution, mit der Zerstörung, was damals so als die 'vier alten Dinge' galt: Da gehörten auch die alten konfuzianischen Traditionen dazu, die man unbedingt zerschlagen wollte – die alten Traditionen, die alte Kultur, die alten Schriften auch. Und die Kulturrevolution, die sich in diesem Jahr ja zum 50. Mal jährt, nimmt eine ganz zentrale Rolle ein; auch, was die Beziehungen der Menschen untereinander angeht. In einer Gesellschaft, in der man sich damals ja auch gegenseitig an eine Behörde verriet, wo das Vertrauen zerstört wurde – diese Wunden sind bis heute spürbar. Da ist auch der gesellschaftliche Zusammenhalt so ein bisschen verloren gegangen."
Große Vorsicht im Umgang mit ausländischen Journalisten
Als Journalistin erlebte Ruth Kirchner die strenge Politik und die Zensur hautnah, besonders nach dem Regierungswechsel im Jahr 2012.
"Die Zensur wurde noch weiter verschärft. Man fragt sich manchmal, was kann man denn da noch verschärfen? Es ist noch schwieriger geworden, selbst im Internet einigermaßen kontroverse Debatten zu führen, die über Kurzmitteilungen von einigen wenigen Zeichen hinausgehen. Und man hat es auch ganz ganz stark gemerkt bei der Suche nach Interviewpartnern. Auch jene, die sich vielleicht als Teil des Systems fühlen, die aber liberaler sind, die tatsächlich Veränderungen wollen, wurden sehr, sehr viel vorsichtiger im Umgang mit ausländischen Journalisten."
Aber auch der chinesische Alltag brachte für die Familie und die beiden Kinder einige Herausforderungen mit sich: Ihre beiden Kinder sind Peking aufgewachsen, sprechen besser Chinesisch als ihre Mutter. Sie gingen auf eine internationale Schule, die weit weniger Druck auf die Schüler ausübt, als es in chinesischen Schulen der Fall ist. Man sehe kaum chinesische Kinder in den Parks, sie müssten bis abends lernen.
Berlin kam den Kindern menschenleer und klein vor
Ruth Kirchners Faszination für die Vielfalt der Volksrepublik, ihre Fremdheit und Widersprüche hält immer noch an, obwohl sie inzwischen mit ihrer Familie wieder in Deutschland lebt. Hier mussten sich besonders die Kinder erst an die anderen Dimensionen in Berlin gewöhnen, das ihnen viel kleiner, geradezu menschenleer vorgekommen sei. Aber eine Sache genießen sie: die bessere Luft.
"Natürlich wollen wir Peking nicht auf diesen Smog reduzieren, aber dass man nicht mehr ständig auf diese Luft-Apps guckt, das habe ich als sehr befreiend empfunden. Und dann kommt auf einer anderen Ebene noch etwas dazu, was sich in der Diskussionskultur abspielte: Dass man, wenn man so lange in einem so autoritären System gelebt hat, dass man sich auch daran erst wieder gewöhnen muss an eine ganz andere gesellschaftliche Debatte, an eine ganz andere Debattenkultur auch – also eine demokratische Debattenkultur."