"Wir dürfen die Welt nicht in ein Wir und ein Du einteilen"
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Ruth Weiss ist zwölf Jahre alt, als ihre jüdische Familie 1936 nach Südafrika emigriert. Sie kämpft gegen die Apartheid, später ist sie Afrikakorrespondentin. Zurückgekehrt nach Deutschland hat sie ein Ziel: Jugendlichen Menschlichkeit zu vermitteln.
Ruth Weiss wird 1924 geboren und wächst in einem kleinen Dorf bei Fürth auf. An ihrer Schule, einer Zwergschule, gab es nur einen Lehrer für drei Klassen – während er eine Schülergruppe unterrichtete, wurden die andern mit einer Aufgabe beschäftigt.
"Aber das bedeutete, dass sich alle Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren kannten und dass sie auch mich kannten", sagt Weiss. "Ich war das einzige jüdische Kind. Und man hat mich akzeptiert."
Enger Zusammenhalt im "Fränkischen Jerusalem"
Sie erinnert sich an einen engen Zusammenhalt ihrer Familie. Ihr Großvater, ein religiöser Jude, lebte in Fürth, das bis zum Holocaust vielen als das "Fränkische Jerusalem" galt. Während sich bei ihm alles ums Judentum drehte, waren ihre Eltern weniger streng gläubig.
Bereits 1933, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, änderte sich das Leben für sie und ihre Familie. Denn sowohl der Lehrer als auch der Pfarrer in Weiss‘ Dorf waren, wie sich nun zeigte, Anhänger der NSDAP. Umgehend wurde sie in ihrer Klasse ausgegrenzt.
"Am ersten Tag, an dem ich dann nach der Machtergreifung in die Schule kam, hatte ich keine Schulbank-Freundin mehr. Es wollte niemand mehr neben mir sitzen, und der Lehrer hat mich nicht mehr aufgerufen. Es war so unerwartet und so plötzlich, dass ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte."
Flucht nach Südafrika
Im April 1933 wurde ihr Vater fristlos entlassen. Er war Angestellter in einem Spielwarengeschäft gewesen. Die Familie verließ das Dorf und zog nach Fürth. Dort wohnten sie bei der Familie, bis der Vater, durch Verwandte vermittelt, eine Anstellung in Südafrika fand und dorthin auswanderte, was Ruth Weiss vermutlich das Leben rettete. Denn 1936 verließ sie Deutschland und zog mit Mutter und Schwester dem Vater hinterher.
"Das Schlimmste bei dem Abschied war, dass man nicht wusste, ob man die Großeltern, die Gemeinde, Tanten, Onkel je wiedersah. Und die meisten Mitglieder die ältere Generation haben nicht überlebt."
In Südafrika lebte die Familie in einem armen, von Buren geprägten Vorort von Johannesburg. Ruth Weiss lernte die Realität der strengen Rassentrennung kennen – lange bevor es im Land Apartheidgesetze gab. So wurde ihre Mutter darauf aufmerksam gemacht, dass es ihr nicht gestattet war, das Kind einer schwarzen Angestellten auf den Arm zu nehmen.
Politisches Engagement gegen die Apartheid
Als Jugendliche engagierte sich Weiss in der zionistischen Bewegung – gleichzeitig setzte sie sich gegen die Rassentrennung in Südafrika ein. Sie heiratete den deutschstämmigen jüdischen Journalisten Hans Weiss – und stieg ab 1960 selbst in den Journalismus ein. Das Paar pflegte Freundschaften mit schwarzen Intellektuellen, was selbst für eine liberale weiße Familie seit den Apartheidgesetzen nicht nur außergewöhnlich, sondern verboten war.
"Man hat es diskret gemacht. Wir kannten einige junge, begabte Journalisten des Drum-Magazins. Das war eine sehr kämpferische Zeitschrift für Afrikaner. Die hatten ihren ganz eigenen Stil, gewissermaßen Township-Jazz. Mit einigen von denen waren wir eng befreundet."
Als ihr Mann begann, für deutsche Medien zu schreiben, gehörte es zu seinem Beruf, Afrikaner kennenzulernen und sie zu interviewen. "Es gab natürlich Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen. Ich hatte Freunde, die im Gefängnis gelandet oder ausgewandert sind, weil sie ein Verhältnis hatten, das von der Regierung nicht gutgeheißen wurde."
Ein Leben als Korrespondentin in Afrika
1965 wurde sie als Korrespondentin ins damalige Südrhodesien geschickt, das heutige Simbabwe. Dort war sie wegen ihrer Berichterstattung bald im Visier der weißen Regierung. Gleichzeitig geriet sie in Südafrika auf eine Liste von Regimegegnern und wurde bei der Wiedereinreise festgenommen.
1966 wurde ihr Sohn geboren, mit ihm ging sie Ende der Sechzigerjahre zunächst nach London, dann nach Sambia. Nachdem Simbabwe unabhängig geworden war, wurde sie von Robert Mugabe in das Land eingeladen, das sie fluchtartig verlassen musste. Ab 1975 war sie Chefin vom Dienst der Afrikaredaktion der Deutschen Welle in Köln.
"Ich fühlte mich in Deutschland nicht zu Hause. Der Krieg war nicht lange genug vorbei."
In Deutschland geht sie in die Schulen
Zudem stellte sie fest, dass sie als berufstätige und alleinerziehende Mutter in Afrika ein besseres Leben hatte als in Europa. Sie zog weiter, über London und Harare auf die Isle of Wight, arbeitete an Büchern und Filmen, bereiste immer wieder Afrika. Erst 2002 zog sie erneut nach Deutschland. Dort begann sie, Kinder und Jugendliche in Schulen über die Nazizeit aufzuklären.
"Ich habe die Überzeugung, dass wir alle Menschen sind. Und dass wir aus der Geschichte von Ländern wie Nazi-Deutschland und dem Apartheid-Südafrika zu lernen haben. Wir sollten akzeptieren, dass Menschen unterschiedlich sind. Wir haben alle dasselbe Blut, denselben Ehrgeiz. Wir wollen alle das Leben gestalten, so, dass es Sinn macht. Wir können uns nicht einteilen in ein Wir und ein Du, sondern es muss ein Wir der Menschheit sein. Wir sind alle Menschen."
Dafür kämpft Ruth Weiss. Seit 1995 lebt sie in Dänemark.