"Der Fall hat alle empört"
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"Wir sind Golunow": Der unter Hausarrest gestellte Investigativjournalist Iwan Golunow erfährt in Russland viel Solidarität. Selbst Journalisten von staatlichen Medien engagieren sich für ihn, sagt die "Kommersant"-Redakteurin Jelena Tschernenko.
Stephan Karkowsky: Im aktuellen Medienmagazin "Journalist" hat die NGO "Reporter ohne Grenzen" gerade eine Weltkarte der Pressefreiheit veröffentlicht. Russland ist tiefrot eingefärbt, für Journalisten ist die Lage dort schwierig. Umso erstaunlicher scheint es deshalb, dass gestern gleich mehrere russische Qualitätszeitungen gemeinsam gegen die Willkürbehandlung eines Reporterkollegen protestierten. Sprechen möchte ich darüber mit Jelena Tschernenko, sie leitet das Auslandsressort bei der Zeitung "Kommersant", die an der Aktion beteiligt ist. Guten Morgen!
Jelena Tschernenko: Guten Morgen!
Karkowsky: Es geht um den Prozess gegen den bekannten Investigativ-Journalisten Iwan Golunow – 36 Jahre jung. Zuletzt soll er über Korruption bei hochrangigen Beamten in Moskau recherchiert haben, und am Sonntag war Golunow wegen Drogenhandels unter Hausarrest gestellt werden. Er selbst sagt, die Drogen seien ihm untergeschoben worden, um einen Strafprozess zu provozieren. Wer könnte denn so etwas tun?
Tschernenko: Also Iwan Golunow hat vor Gericht selbst gesagt, er habe in den letzten Wochen mehrmals Drohungen bekommen, und zwar von Personen aus der Bestattungsbranche in Moskau. Er hat eine große Recherche darüber vorbereitet und den Artikel zwei Tage vor dem Arrest seinem Redakteur abgegeben.
Er sagt, er habe darin beweisen können, dass diese Branche, in der sehr viel Korruption ist und von der nur ein Bruchteil in der legalen Phase, sagen wir mal so, ist, dass diese Branche von dem russischen Dienst, der für innere Sicherheit verantwortlich ist, also von dem FSB kontrolliert wird, und dass da Milliarden von Dollar illegal fließen und dass der FSB da seine Hände drin hat. Er hat bestimmte Personen erwähnt, die im Moskauer FSB arbeiten, und er meint, dieser Arrest und alles, was danach kam, würde mit dieser Recherche zusammenhängen.
Zweifel, ob der Kreml verantwortlich ist
Karkowsky: Die deutsche Tageszeitung "Die Welt" versucht heute auch eine Erklärung, sie sagt, es muss nicht unbedingt der Kreml damit etwas zu tun haben. Ähnlich wie Sie es sagen, wird dort behauptet, dass Russlands Präsident Putin die Macht über seinen Sicherheitsapparat entglitten sein könnte, dass diese Repressionsmaschinerie zu sehr sich selbst überlassen wurde und dass es erste Anzeichen gibt, dass es Männer aus der mittleren Leitungsebene der Geheimdienste sind, die in den Fall verwickelt sind. Das ist also auch Ihre Analyse?
Tschernenko: Das kann gut möglich sein, denn der Arrest geschah genau an dem Tag, an dem Wladimir Putin in St. Petersburg aufgetreten ist bei dem großen internationalen Wirtschaftsforum. Und es kam aber so, dass wegen des Arrestes von Iwan Golunow dieses Forum in St. Petersburg, dass das in den Hintergrund geriet und alle nur über Iwan Gulunow sprachen. Er war die meist erwähnte Person an dem Tag, und das Forum, um das sich die russischen Mächte so kümmern und das so wichtig ist für den Kreml, das war dann an zweiter Stelle. Also ich würde schon sagen, dass der Kreml da kein Interesse dran hätte.
Karkowsky: Nun hat es ja schon öfter Fälle von Behördenwillkür gegeben in Russland, aber diese Aktion von drei Tageszeitungen, die jetzt gemeinsam auf dem Titel erschienen mit der Schlagzeile "Wir sind Golunow", das ist einmalig. Warum erst jetzt?
Tschernenko: Das ist tatsächlich einmalig, das ist noch nie in der Geschichte vorgekommen. Ich glaube, diese Geschichte mit dem Arrest von Iwan Golunow, die hat sehr viele Leute aufgeregt und sehr viele Leute waren empört. Es sind nicht nur diese drei Tageszeitungen rausgekommen mit der gleichen Titelstory, zu seinem Schutz haben sich auch sehr, sehr viele Personen geäußert, und zwar auch prominente Journalisten bei staatlichen Medien, also nicht nur bei unabhängigen Medien. Es haben sich für seinen Schutz auch Leute aus der Theaterbranche geäußert, Musiker, also ein sehr großes Spektrum in der Gesellschaft.
Es hat alle empört, weil es so aussieht, als könnte das jedem passieren. Jeder, der unbequem wird, egal für wen, für die Mächte hier oder dort, dem kann man Drogen unterschieben. Dann kommt der für zehn, zwanzig Jahre ins Gefängnis und er ist aus dem Weg. Das heißt, es hat alle empört, weil man sieht, dass der Staat da ohnmächtig ist, da können tatsächlich Leute aus der mittleren Branche so etwas tun.
"Die Lage ist schon ziemlich schwierig"
Karkowsky: Ist man denn tatsächlich verloren, wenn man erst mal in die Fänge der russischen Justiz geraten ist wie Golunow jetzt, oder sehen Sie durchaus Chancen, dass, wenn der Protest groß genug ist, seine Freilassung gelingen könnte?
Tschernenko: Man glaubt hier, dass er unter Hausarrest kam und nicht jetzt weiter im Gefängnis sitzt, nur weil der Protest so groß war. Bei solchen Fällen, wo es um Drogen geht, ist es sehr, sehr seltsam in Russland, dass jemand nach der ersten Anhörung im Gericht unter Hausarrest gestellt wird. Normalerweise gehen alle weiter in Untersuchungshaft.
Karkowsky: Hier im Westen wird das alles sehr aufmerksam verfolgt. Man kennt ja auch viele andere Namen. Igor Rudnikov beklagte sich über zwei Mordversuche, kam dafür selbst in Haft, Nikolai Andruschtschenko wurde totgeprügelt, Arkadi Babtschenko floh nach Mordplänen gegen ihn ins ukrainische Exil. Unvergessen natürlich der Mord an Anna Politkowskaja an Putins Geburtstag 2006. Für wie gefährlich halten Sie die Lage für kritische Journalisten in Ihrem Land?
Tschernenko: Die Lage ist schon ziemlich schwierig. Es ist Gott sei Dank nicht so gefährlich wie in Ländern, wo es Konflikte gibt wie zum Beispiel, sagen wir mal, in Afghanistan oder in Syrien, wo sehr viele Journalisten jährlich ums Leben kommen, aber die Lage ist schon ziemlich schwierig. Die Demokratie in Russland baut sich nur sehr langsam auf. Solche Mordfälle wie mit Anna Politkowskaja gibt es Gott sei Dank in letzter Zeit nicht. Und Sie haben Arkadi Babtschenko erwähnt: Es war ja voriges Jahr so, dass man glaubte, er sei auch umgebracht worden in Kiew, aber dann hat man herausgefunden, dass er doch am Leben ist und dass das sozusagen eine Inszenierung war. Also die Lage ist schon schwierig, aber Journalisten arbeiten und versuchen, ihr Bestes zu tun, wie halt Iwan Golunow auch.
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