Joyce Farmer: "Besondere Jahre. Ein Abschied in Bildern"

Ein Gleichnis über das Altern und Sterben

Eine alte und eine junge Frau halten Hände.
Eine alte und eine junge Frau halten Hände. © imago/Westend61
Von Susanne Billig |
Vier Jahre lang hat die Autorin und Zeichnerin Joyce Farmer ihre Eltern gepflegt und ihre Erfahrungen in dieser bewegenden Graphic Novel zu Papier gebracht. Ein großartiges Buch mit Schwarz-Weiß-Zeichnungen über die brüchige Würde des Lebens am Lebensende.
Ein altes Ehepaar sitzt in der dunklen Wohnung. Der Strom ist vor Tagen schon ausgefallen, der Kühlschrank leer, die beiden haben Hunger. "Warum habt ihr keine Hilfe geholt?", fragt die Tochter entsetzt, als sie ihre Eltern so vorfindet. "Wir wollten nicht, dass du dir Sorgen machst", lächeln die alten Leute.
Joyce Farmer erzählt ein Gleichnis
Vier Jahre lang hat die Autorin und Zeichnerin Joyce Farmer ihre Eltern gepflegt und nun ihre Erfahrungen in der bewegenden Graphic Novel "Besondere Jahre" zu Papier gebracht. Dort taucht sie selbst als Tochter Laura auf, die ihren Vater Lars und dessen zweite Ehefrau Rachel begleitet, bis die beiden kurz nacheinander sterben. Joyce Farmer erzählt ein Gleichnis, das die Charaktere durch typische Stationen des Altwerdens und Sterbens schickt: Lars und Rachel verlieren allmählich ihre Kräfte, verweigern störrisch den Arztbesuch, klammern sich an jedes Stückchen Unabhängigkeit, wollen der Tochter nicht zur Last fallen und tun es doch über alle Maßen, bis die fast zusammenbricht. Das Personal im Altersheim gibt sich freundlich und lässt es doch zu, dass die alten Leute dort vor vollen Tellern hungern, weil die Zeit zur Hilfestellung fehlt, und dass der Vater bald auf einem untertassengroßen Dekubitus liegt.
Zugleich, und darin besteht das Wunder dieses Buches, gelingt es Joyce Farmer, ihren Figuren in Textblasen und grob schraffierten Zeichnungen so viel Individualität einzuhauchen, dass der normale Verlauf der Dinge zu einer mitreißenden persönlichen Geschichte wird. Vater Lars mit seinem verwuschelten Haar besteht aus lauter Gutmütigkeit und gewinnt noch der misslichsten Situation eine helle Seite ab. Er ist aber auch ein kluger Mann, der viel liest und sich bis zum letzten Augenblick über die Welt Gedanken macht. Stiefmutter Rachel liebt ihr langes Haar, die wilde Unordnung der Wohnung und die vielen Puppen, die sie bastelt und mit selbst genähten Kleidern schmückt.
Wunderbar langsam erzählt
Von ihren Menschen erzählt Joyce Farmer wunderbar langsam und nimmt sich viel Zeit, die besonderen Momente der Geschichte auszuloten. Einmal versucht Tochter Laura, der verstaubenden Krimskrams-Berge in der elterlichen Wohnung Herr zu werden und wirft die kaputtesten Gegenstände in eine Mülltüte. Vater Lars kommt hinzu, hebt ein Stück Nippes auf, setzt sich umständlich hin und erzählt dessen Geschichte – bis das kleine Stückchen Abfall zum Brennglas seines ganzen langen Lebens wird. Solche Episoden zeigt die Autorin in Rückblenden, die Rachel und Lars als junge Menschen voller Abenteuerdrang lebendig werden lassen. Der kranke alte Mensch, sagt Joyce Farmer auf diese Weise, ist der junge Mensch, der du heute vielleicht bist.
Wie schwer das Altern und Sterben ist, selbst wenn Verwandte und Freunde sich kümmern und eine Tochter tut, was sie nur kann: Wie schwer es ist – davon erzählt dieses Buch. Unaufgeregt und intensiv, beiläufig und aufwühlend, traurig und voller Zärtlichkeit. Es ist, in kleinen detailverliebten Schwarzweißzeichnungen, ein großartiges Buch über die brüchige Würde des Lebens am Lebensende und über die schmerzhaften Grenzen der Liebe.

Joyce Farmer: "Besondere Jahre. Ein Abschied in Bildern"
Graphic Novel, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Gundula Schiffer
Egmont Verlag, Köln 2015
208 Seiten, gebunden, 29,99 Euro