Lesetour:
Juan Gabriel Vásquez stellt seinen neuen Roman "Die Gestalt der Ruinen" aktuell in Deutschland vor: am 21.11. um 20 Uhr im Deutsch-Amerikanischen Institut in Heidelberg, am 22.11. in Frankfurt am Main, am 23.11. in Berlin und am 24.11. in Buchholz/Nordheide.
Auf den Spuren der Gewalt in Kolumbien
50 Jahre Gewalt und Leid – in seinem neuem Roman „Die Gestalt der Ruinen“ erzählt Juan Gabriel Vásquez von der Ermordung des kolumbianischen Präsidentschaftskandidaten Gaitán 1948. Ein Mord mit verheerenden Folgen für ein ganzes Land.
Juan Gabriel Vásquez tritt am späten Morgen aus dem Café Pasaje hinaus auf einen mit Blumen geschmückten Platz im Zentrum Bogotás: "Wir sind hier auf der Plazoleta del Rosario. Hier habe ich fünf Jahre meines Lebens verbracht, als Jura-Student an der Universidad del Rosario."
Vásquez wollte aber Schriftsteller werden. Er schwänzte Jura-Vorlesungen, um nach antiquarischen Büchern zu suchen oder die Spuren der Gewalt zu verfolgen, wie er es in seinem stark autobiographischen Roman "Die Gestalt der Ruinen" beschreibt. Jetzt bleibt der 45 Jahre alte Autor an einer Kreuzung stehen. Ein Rest Schienen erinnert an die Existenz einer Straßenbahn und die Tafel an einem hohen Gebäude an Jorge Eliécer Gaitán, den beim Volk äußerst beliebten Präsidentschaftskandidaten der Liberalen Partei:
"Am 9. April 1948 hat Gaitán sein Büro verlassen, um mit Freunden zu Mittag zu essen. Als er diese Straße hier überquert hat, ist sein Mörder aufgetaucht. Viermal hat er auf Gaitán geschossen. Drei Kugeln haben ihn getroffen. Gaitán ist dann einige Minuten später in einem Krankenhaus in der Nähe gestorben."
"Am 9. April 1948 hat Gaitán sein Büro verlassen, um mit Freunden zu Mittag zu essen. Als er diese Straße hier überquert hat, ist sein Mörder aufgetaucht. Viermal hat er auf Gaitán geschossen. Drei Kugeln haben ihn getroffen. Gaitán ist dann einige Minuten später in einem Krankenhaus in der Nähe gestorben."
Ein Mord, der das Land ins Chaos stürzte
Der Mörder wurde gleich nach seiner Tat gelyncht. Die ungeklärte Frage nach möglichen Hintermännern zieht sich wie ein roter Faden durch Vásquez' neuen Roman. Ist es nur eine Verschwörungstheorie oder doch eine verborgene Wahrheit? Die Anhänger Gaitáns glaubten schon damals, die Konservativen steckten hinter dem Mord. Der hatte verheerende Folgen: in der Hauptstadt Straßenkämpfe mit 3.000 Toten, im ganzen Land ein Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen mit 300.000 Toten und schließlich der bewaffnete Konflikt zwischen Guerilla auf der einen und Staat und Paramilitärs auf der anderen Seite mit 220.000 Toten und Millionen Vertriebenen.
Wird der offizielle Frieden von Dauer sein? Vásquez ist da pessimistisch: "Eines der Hauptopfer des bewaffneten Konflikts in Kolumbien ist die Wahrheit. Wir Kolumbianer sind gespalten in der Frage, wie man diese 50 Jahre umfassende Geschichte voller Leid erzählt. Dabei behandeln die Friedensvereinbarungen einerseits alle Opfer gleich und andererseits alle Täter. Die Guerillakämpfer müssen ihre Verbrechen anerkennen, aber auch die Paramilitärs und die Militärs. Eigentlich genau die richtigen Voraussetzungen, um uns zu versöhnen. Aber seltsamerweise gibt es Gruppen, die genau das nicht wollen, die nur die Schuld des Anderen, des Feindes, anerkennen können."
Tod und Geburt
Mächtige Kräfte von rechts würden den Frieden deshalb sabotieren. Juan Gabriel Vásquez passiert den Ort, an dem 1914 ein weiterer liberaler Politiker, Rafael Uribe Uribe, ermordet wurde. Zwei Handwerker schlugen mit Beilen auf ihn ein. Vielleicht auch sie im Auftrag Dritter? Fragt man sich nach der Lektüre des Romans "Die Gestalt der Ruinen":
"Am Anfang des Romans stand ein sehr wichtiges Ereignis meines Lebens: die Frühgeburt meiner Zwillingstöchter hier in Bogotá. Danach haben meine Frau und ich wochenlang unsere Töchter, die in Brutkästen lagen, im Krankenhaus besucht. Zu dieser Zeit hat mich ein Chirurg zu sich nach Hause eingeladen. Da hat er mir zwei Dinge aus seinem Besitz gezeigt: zuerst einen Wirbel von Gaitán. Der Wirbel wies ein Einschussloch auf. Und als wäre das nicht genug, hat mir der Arzt auch noch den Teil des Schädels von Rafael Uribe Uribe gezeigt, der vom Beil getroffen worden war. Ich war also in der seltsamen Situation, die menschlichen Überreste dieser zwei Opfer der kolumbianischen Gewalt in Händen und danach im Krankenhaus meine Töchter im Arm zu halten."
"Am Anfang des Romans stand ein sehr wichtiges Ereignis meines Lebens: die Frühgeburt meiner Zwillingstöchter hier in Bogotá. Danach haben meine Frau und ich wochenlang unsere Töchter, die in Brutkästen lagen, im Krankenhaus besucht. Zu dieser Zeit hat mich ein Chirurg zu sich nach Hause eingeladen. Da hat er mir zwei Dinge aus seinem Besitz gezeigt: zuerst einen Wirbel von Gaitán. Der Wirbel wies ein Einschussloch auf. Und als wäre das nicht genug, hat mir der Arzt auch noch den Teil des Schädels von Rafael Uribe Uribe gezeigt, der vom Beil getroffen worden war. Ich war also in der seltsamen Situation, die menschlichen Überreste dieser zwei Opfer der kolumbianischen Gewalt in Händen und danach im Krankenhaus meine Töchter im Arm zu halten."
"In welchem Verhältnis stehen vergangene, gewaltsame Tode zur Geburt eines Menschen?", fragte sich der Autor beim Schreiben seines Buchs, das auch Politthriller und historischer Roman ist.
Juan Gabriel Vásquez bleibt zwischen der Handelskammer und einem Backsteingebäude stehen, um sich an 1993 zu erinnern. Da war er 19 und gerade wieder auf der Suche nach einem bestimmten Buch:
"Hier war früher ein Schreibwarenladen mit einer kleinen Buch-Abteilung. Ich wollte den Laden betreten. Aber er war brechend voll. Überall Mütter mit Kindern, die Materialien zum neuen Schuljahr kaufen wollten. Also bin ich stattdessen erst mal zu den Antiquaren ins Centro Cultural del Libro gegangen. Da ist auf Befehl von Pablo Escobar eine Autobombe vor der Handelskammer explodiert. Auch Schulkinder, Mütter und andere Kunden im gegenüberliegenden Schreibwarenladen waren unter den Todesopfern. Da war ich erst zwei, drei Minuten Fußweg entfernt. Es hätte also nicht viel gefehlt und ich wäre bei einem Attentat des Medellín-Kartells gestorben."
"Hier war früher ein Schreibwarenladen mit einer kleinen Buch-Abteilung. Ich wollte den Laden betreten. Aber er war brechend voll. Überall Mütter mit Kindern, die Materialien zum neuen Schuljahr kaufen wollten. Also bin ich stattdessen erst mal zu den Antiquaren ins Centro Cultural del Libro gegangen. Da ist auf Befehl von Pablo Escobar eine Autobombe vor der Handelskammer explodiert. Auch Schulkinder, Mütter und andere Kunden im gegenüberliegenden Schreibwarenladen waren unter den Todesopfern. Da war ich erst zwei, drei Minuten Fußweg entfernt. Es hätte also nicht viel gefehlt und ich wäre bei einem Attentat des Medellín-Kartells gestorben."
Rettender Zufall
Vásquez muss zum nächsten Termin eilen. Aber dann hält er mit einem Mal vor dem Eingang einer Bücherhalle inne und blickt schweigend zu den Antiquaren: "Hier werden Erinnerungen wach." Es ist das Centro Cultural del Libro, der Ort, der ihn vom Schreibwarenladen weggelockt und ihm wohl so das Leben gerettet hat. Zum ersten Mal seit über 20 Jahren betritt Juan Gabriel Vásquez wieder diese Halle, verliert sich im Betrachten von Romanen und Essaybänden und ist für einige Minuten wieder der Student, der die Rechtswissenschaften zugunsten der Literatur vernachlässigt hat.
Juan Gabriel Vásquez: "Die Gestalt der Ruinen"
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Frankfurt: Schöffling & Co, 2018, 521 Seiten, 26 Euro