Juan Gabriel Vásquez: "Lieder für die Feuersbrunst"
Erzählungen. Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2021
232 Seiten, 22 Euro
Eine Gewaltgeschichte Kolumbiens in Andeutungen
06:19 Minuten
Juan Gabriel Vásquez erzählt von Menschen, die Krieg, Drogenhandel und brutalisiertem Alltag zum Opfer fallen. In "Lieder für die Feuersbrunst" zeigt sich der kolumbianische Schriftsteller wieder einmal als Meister von Auslassung und Verknappung.
So zahlreich sind die Kriege und Bürgerkriege in der Geschichte Kolumbiens, dass man die blutigen Kämpfe in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts erschöpft nur noch "La Violencia" nennt.
Um die Verheerungen, die die Gewalt unter den Menschen anrichtet, kreisen Juan Gabriel Vásquez‘ Erzählungen "Lieder für die Feuersbrunst". Die Titelerzählung am Ende des Bandes schließt mit den Worten: "Wir Kinder dieses in Brand gesteckten Landes (sind) dazu verdammt, uns zu erinnern, nachzuforschen und zu bedauern und dann Lieder zu verfassen, Lieder für die Feuersbrunst."
Es hätte dieses programmatischen Satzes nicht bedurft, nicht in der für Vásquez unüblich pathetischen Form und nicht in dieser Deutlichkeit.
Bereits die erste Erzählung des Buches, "Frau am Ufer", zeigt, dass die Geschichten des bekannten kolumbianischen Schriftstellers, der 1973 geboren wurde und seit Jahren in Barcelona lebt, den Opfern von Kriegen, Drogenhandel und eines durch sie brutalisierten Alltags gelten. Anders als viele seiner schreibenden Landsleute berauscht sich Vásquez nicht an der Gewalt.
Trauer und Erleichterung
Stattdessen leiht er den Opfern eine trockene, knappe Erzählerstimme: Die Geschichte von "Frau am Ufer" habe ihm die Fotografin J. erzählt, vermutlich, weil "sie (…) über mich einen Weg gefunden hat, sich die eigene Geschichte erzählen zu lassen und etwas zu verstehen (…), was ihr bisher immer wieder entglitten war."
J. war Zeugin, wie Yolanda, die Assistentin eines Politikers, beim Reiten lebensgefährlich verunglückte. Als J. mit dem Arbeitgeber über Amnesie als mögliche Spätfolge spricht, zeigt der Mann seltsamerweise sowohl Trauer wie Erleichterung.
Zwanzig Jahre später begegnet die Fotografin Yolanda am selben Ort, ohne von ihr erkannt zu werden. Sie plaudern ein wenig über den Krieg, dessen Opfer J. noch immer fotografiert, und weil Yolanda meint, nichts Schlimmes erlebt zu haben, erzählt die Fotografin, sie habe von der Assistentin eines Politikers gehört, die von ihrem Arbeitgeber um 6 Uhr morgens im Hotelzimmer aufgesucht wurde.
Als J. die Kamera kurz darauf auf Yolanda richtet, beginnt diese zu weinen. Ihr Motiv wird nicht genannt, aber der eben noch staunende Leser weiß schockartig Bescheid.
Vergangenheit und Gegenwart treffen aufeinander
Vásquez stellt Geheimnis und Suspense in den Dienst der Empathie. Mit einer Handvoll Details und Situationen schildert er auf wenigen Seiten Schicksale, die seinen Kollegen zu Romanen angeschwollen wären. Verliebt ist er allerdings in literarische Anspielungen. Sie drohen, die Titelerzählung zu überwuchern.
Meist treten Vergangenheit und Gegenwart plötzlich in Konjunktion. Ein vermeintlicher Kriegsveteran steht bei einem Treffen mit Kameraden plötzlich einer Frau gegenüber, der er zu Beginn der Fünfzigerjahre begegnet war – just zu der Zeit, als er in Korea hätte kämpfen müssen: Der Deserteur verhalf ihr zu einem damals anrüchigen Schwangerschaftstest.
Beide erkennen sich plötzlich, "da stürzten die letzten fünfzig Jahre in sich zusammen", und der Enttarnte beginnt zu erzählen. Juan Gabriel Vásquez, der Meister der Lücken und Auslassungen, spart es natürlich aus.