Den Mythos Che entzaubern
Mit "Mein Bruder Che" meldet sich jetzt das zweite Mitglied der Familie Guevara in Buchform zu Wort. Autor ist Ches 15 Jahre jüngerer Bruder Juan Martín. Auch er war politisch aktiv und lange im Gefängnis - "irgendwie auch als Bruder des Che Guevara".
Vor 50 Jahren wurde der weltberühmte Revolutionär, Arzt und Autor Ernesto Rafael Guevara de la Serna, genannt Che, ermordet. Jahrzehntelang äußerte sich dessen Familie nicht öffentlich dazu, bis der Vater 1981 das Buch "Mein Sohn Che" publizierte. Jetzt bricht einer der jüngeren Brüder Ches ebenfalls sein Schweigen.
"Mir ging es darum, diesem Mythos ein menschliches Gesicht zu geben, ihn mit menschlichem Inhalt zu füllen", so Juan Martín Guevara im Deutschlandfunk Kultur. So werde Che Guevara gewöhnlich zu sehr als Revolutionär betrachtet und nicht als Denker.
Blutsbruder und ideologischer Bruder
"Er hat sich erst mal sehr viele Gedanken gemacht und Ideen entwickelt, bevor er wirklich revolutionär geworden ist. Er hat nicht als Revolutionär direkt angefangen", betonte Guevara.
"Die Zeit, die er sozusagen mit dem Entwickeln von Konzepten und Ideen verbracht hat, war eine längere Zeit als die, die er tatsächlich revolutionär war." Erst in Guatemala habe sein Bruder die Entscheidung getroffen, sich dem bewaffneten Kampf und der Revolution zu widmen.
"Ich habe immer gesagt, dass Ernesto sozusagen mein Blutsverwandter ist, meine Bruder des Blutes, und Che Guevara ist mein ideologischer Bruder, der im Geiste. So war ich dann auch selbst als Häftling, als Gefangener, als Militanter, als Aktivist inhaftiert, aber natürlich irgendwie auch als Bruder des Che Guevara", sagte Juan Martín Guevara, der 15 Jahre jünger ist als Che. "Und heute kann man sagen, nur ein Gefangener, und kein Verschwundener." (uko)
Das Interview im Wortlaut:
Frank Meyer: "Ich habe 47 Jahre damit gewartet, den Ort aufzusuchen, den Ort, an dem man meinen Bruder Che Guevara ermordete" - mit diesem Satz beginnt das Buch von Juan Martín Guevara. Er ist einer der jüngeren Brüder von Che Guevara, des weltberühmten Revolutionärs aus Argentinien. Mit seinem Buch will Juan Martín Guevara den Mythos Che zerstören und seinem Bruder wieder ein menschliches Antlitz geben. Ich habe vor der Sendung mit Juan Martín Guevara gesprochen und ihn zuerst gefragt: worin besteht denn dieser Mythos Che, den Sie zerstören wollen? Worin besteht er aus Ihrer Sicht?
Juan Martín Guevara: Erst mal muss man mit dieser Möglichkeit anfangen, diesen Mythos zu zerstören. Die ist nämlich gar nicht gegeben. So eine Möglichkeit gibt es nicht, da dieser Mythos schon so hoch gelagert ist, der ist schon so groß geworden, dass man ihn gar nicht mehr zerstören kann.
Mir ging es deshalb darum, diesem Mythos ein menschliches Gesicht zu geben, ihn mit menschlichem Inhalt zu füllen, philosophischen, persönlichen Gedanken und so weiter. Und dafür musste ich bei der Familie anfangen, wie er als Kind gewesen ist, wie er aufgewachsen ist, was für eine Mutter, was für einen Vater er gehabt hat.
"Zu Hause haben wir viel über Politik gesprochen"
Meyer: Ein menschliches Antlitz für Ihren Bruder geben, dazu gehört eben auch für Sie gerade, von ihm als einem Bruder zu erzählen. Sie sind 15 Jahre jünger als er. Wie haben Sie ihn denn erlebt als so viel älteren Bruder?
Guevara: Ja, das ist natürlich ein großer Altersunterschied. Der kleine Bruder, auf Argentinisch "El pive", der Kleine, der Pimpfling da unten und so weiter. Aber die Beziehung großer Bruder, kleiner Bruder zwischen uns war nicht so, dass er sich jetzt immer durchgesetzt hätte oder autoritär gewesen sei. Das war eher eine Beziehung unter Freunden, unter Kumpels.
Meyer: Und nach Ihrer Mutter würde ich gern fragen, weil Sie in Ihrem Buch auch schreiben, dass viel von der Prägung, von dem Engagement, auch von der politischen Prägung, von Ernesto Guevara, Ihrem Bruder, der später "Che" genannt wurde, dass das auf Ihre Mutter zurückgeht. War sie denn auch eine politisch sehr engagierte Frau?
Guevara: Ich erinnere mich, dass wir zu Hause wirklich viel über Politik gesprochen haben. Eine Schwester von mir hat mal gesagt, dass wir zu Hause nicht geredet haben, sondern diskutiert haben. Und diese Erinnerung ist wirklich noch da an viele Debatten, Diskussionen. Da ging es um internationale, aber auch um nationale Themen, aber ohne irgendeine Parteilichkeit. Es gab keine Parteizugehörigkeiten.
Es gab einen Onkel, der hatte bei den Internationalen Brigaden in Spanien gekämpft, der tatsächlich der Kommunistischen Partei angehörte. Seine Frau war nicht Parteimitglied, aber noch viel kommunistischer als er. Dann gab es ein paar Onkel und Tanten, die waren Peronisten, mein Vater dagegen war Anti-Peronist. Also, im Haus gab es immer dieses Konglomerat verschiedener Meinungen, über die dann diskutiert wurde.
Anarchie, Franquismus, Kommunismus
Meyer: Und Ihr Bruder, Ernesto Guevara, Che Guevara, hat er, würden Sie sagen, aus diesen Diskussionen bei Ihnen zu Hause, hat er da seine politische Haltung schon mitgenommen?
Guevara: Ja, auf jeden Fall. Meine Mutter ist ja zweisprachig gewesen, also sie sprach genauso gut Französisch wie Spanisch, und wir hatten deshalb auch viele französische Bücher zu Hause. Das war nicht nur Literatur, sondern auch viele politische Bücher. Natürlich gab es auch spanische politische Bücher, die dann auch gelesen wurden.
Und die Konversationen, die ich so mitgehört habe als kleiner Junge, die gingen dann oft über die spanische Republik, über den Franquismus, über die Sowjetunion, über die Formen der Anarchie, über Kommunismus, die Republikaner, all diese Strömungen.
Das war das, was ich als kleiner Junge mitbekommen habe. Und Ernesto war ja schon älter, und er muss da wirklich auch seine Schlussfolgerungen draus gezogen haben, seine eigene Meinung gebildet haben und auch seine Lektüre gesammelt haben.
Meyer: Sie selbst haben ja in Argentinien fast neun Jahre als politischer Gefangener im Gefängnis gesessen. Hatte das auch irgendetwas damit zu damit zu tun, dass Sie aus der Familie von Che Guevara kommen, dass er Ihr älterer Bruder ist?
Teil der revolutionären Bewegung
Guevara: Nicht direkt. Eher indirekt, kann man sagen, denn ich war auch schon vor 1959, also vor dem Ende der kubanischen Revolution ein politisch aktiver Student. Nach 1959 war nicht nur Thema, dass ich der Bruder des Comandante war, das hat natürlich eine große Bedeutung gehabt, aber auch, dass ich mich selbst sehr viel mit jungen Leuten auf der Straße getroffen habe, sozusagen viele Kontakte zur revolutionären Bewegung auf der Straße hatte und selbst da sehr involviert war. Und mit ihm als Blutsverwandtem war das natürlich noch einmal etwas anderes.
Ich habe immer gesagt, dass Ernesto sozusagen mein Blutsverwandter ist, meine Bruder des Blutes, und Che Guevara ist mein ideologischer Bruder, der im Geiste. So war ich dann auch selbst als Häftling, als Gefangener, als Militanter, als Aktivist inhaftiert, aber natürlich irgendwie auch als Bruder des Che Guevara. Und heute kann man sagen, nur ein Gefangener, und kein Verschwundener.
Meyer: Aus Ihrem Buch wird einem ja auch noch einmal klar, was für einen hohen Preis Ihr Bruder bezahlt hat für den Weg, den er gegangen ist, diesen radikalen Weg. Er hat erst Ihre Familie hinter sich gelassen, als er Argentinien verlassen hat. Er hat dann später, als er Kuba verlassen hat, seine eigene Familie hinter sich gelassen, seine Kinder hinter sich gelassen.Wissen Sie, ob er es je bedauert hat, dass sein Leben so von seinen Kämpfen, von der Politik geprägt war?
Guevara: Ja. Er hat ja immer viel geschrieben, und auf seiner letzten Reise auch einen Text darüber geschrieben, Briefe darüber geschrieben, dass er ja auch sehr lange Zeit vor allem ein sehr sozial und politisch denkender Mensch war. Er hat sich erst mal sehr viele Gedanken gemacht und Ideen entwickelt, bevor er wirklich revolutionär geworden ist. Er hat nicht als Revolutionär direkt angefangen.
Seine Mutter hat ihm viel bedeutet
Die Zeit, die er sozusagen mit dem Entwickeln von Konzepten und Ideen verbracht hat, war eine längere Zeit als die, die er tatsächlich revolutionär war. Und diese Entscheidung, revolutionär zu werden, hat er ja erst wirklich in Guatemala getroffen, sich auch dem bewaffneten Kampf zuzuwenden, und in Kuba dann eben umgesetzt, und dann entschieden, all seine Zeit und Energie dieser Revolution zu widmen.
Er wird immer zu sehr als der Revolutionär betrachtet, auch rückblickend in der Geschichtsschreibung, und nicht als der Denker, der er tatsächlich auch war.
Er hat auch darüber geschrieben, dass er seine Familie zurückgelassen hat, um zum Beispiel in den Kongo oder nach Bolivien zu gehen, und dass dies auch ein Opfer war. Aber er hat nicht geschrieben, dass er es bereut hätte. Zumindest hat er nicht geschrieben, es bereut zu haben.
Es gibt aber einen Text, den er geschrieben hat, den hat er "Der Stein" genannt. Den hat er geschrieben, als es unserer Mutter sehr schlecht ging, als klar war, dass sie nicht mehr lange leben würde. Und wie er da schreibt, merkt man schon, dass ihm Familie sehr viel bedeutet hat, auch wenn es jetzt nicht seine Kinder waren, sondern seine Mutter.
Stillschweigendes Einverständnis in der Familie
Meyer: Als Che Guevara erschossen worden war, da hat man sich in Ihrer Familie eigentlich geschworen, nichts über Ihren Bruder zu sagen oder zu schreiben. Ihre Geschwister haben sich auch daran gehalten. Ihr Vater hat sich nicht daran gehalten. Sie brechen jetzt nach fast 50 Jahren dieses verabredete Schweigen mit Ihrem Buch. Warum haben Sie sich dazu entschlossen, dieses Schweigen jetzt zu beenden?
Guevara: Das war nie ein ausgesprochenes Abkommen. Wir haben uns das nicht gegenseitig geschworen, sondern das war eher ein schweigendes Einverständnis, dass wir darüber nicht sprachen, weil es vielleicht manchmal auch einfacher war, manchmal vielleicht auch schwieriger. Aber mein Vater hat es dann tatsächlich gebrochen, "Mein Sohn. El Che", mit diesem Buch, aber da hat er auch Dinge ausgelassen oder nicht kommentiert oder einfach andere Themen angeschnitten.
Aber es wurde, bevor dieses Buch kam, auch schon darüber gesprochen. Und das Buch ist sozusagen nur eine Stufe, weil klar war, dass es immer weitergehen würde. Und ich wusste, dass weiter gesprochen werden würde, und dass auch wieder ein Buch geschrieben wird. Nicht, dass unbedingt ich das schreiben werde, aber diese Idee dazu, das selbst zu machen, entstand dann, als Freunde, die Pläne hatten für ein Museum, das sich mit dieser Zeit befasst, also zu Che Guevara, in Argentinien mich angesprochen hatten, ich solle doch bei ihnen mitmachen und ich sei doch selbst Aktivist gewesen, und dann hätte ich ja diesen Bruder, und das würde doch passen.
Wichtig, über die Vergangenheit zu reden
Und da war mir klar, dass ich eigentlich schon immer innerlich überzeugt gewesen war, dass es wichtig ist, über diese Vergangenheit zu reden, über ihn zu sprechen. Dann war da die französische Autorin Armelle Vincent, die mit mir das Buch dann zusammen gemacht hat, sodass es dann so kam, dass das Buch zuerst auf Französisch erschienen ist, obwohl ich eigentlich gar kein Französisch spreche. Nun ist es aber in zehn verschiedenen Sprachen erschienen und gibt mir auf jeden Fall die Gewissheit, dass nicht ich die wichtige Person bin, sondern Che Guevara.
Meyer: "Mein Bruder Che", so heißt das Buch von Juan Martín Guevara, geschrieben gemeinsam mit der Journalistin Armelle Vincent, aus dem Französischen wurde das übersetzt von Christina Schmutz und Frithwin Wagner-Lippop. Im Klett-Cotta-Verlag ist das Buch erschienen mit 350 Seiten, 22 Euro ist der Preis. Und heute Abend gibt es die Buchpremiere für dieses Buch, die deutsche Ausgabe im Heimathafen Neukölln in Berlin, um 20 Uhr. Herr Guevara, vielen Dank für dieses Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.