Jubiläum

Die Wiedervereinigung der Künste

Von Jochen Stöckmann |
Eine ganz besondere Art der deutsch-deutschen Einigung hatten die beiden Berliner Akademien der Künste in Ost und West nach 1989 vor sich: In ihren Archiven lagen Nachlässe von Schriftstellern und Künstlern ganz unterschiedlicher Herkunft – mit einer je eigenen, oft sehr komplizierten Geschichte.
Da ist etwa der Kulturphilosoph Walter Benjamin, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm. Ein wichtiger Teil seines Nachlasses fand sich im Archiv der Akademie Ost – und gelangte erst auf Umwegen, vor allem auf Fürsprache der Hamburger Reemtsma-Stiftung als Rechteinhaber, wieder nach Berlin. Archivdirektor Wolfgang Trautwein:
"Das waren die Materialien, die die Gestapo in Frankreich beschlagnahmt hatte. Die waren dann über Berlin nach Moskau gekommen und von Moskau in die DDR. Und nach der Wende kamen diese Materialien nach Frankfurt. Dort ging es offensichtlich nicht weiter und dann hat sich die Hamburger Stiftung entschlossen, uns den gesamten Benjamin anzuvertrauen. Und es ist jetzt eines der meist genutzten Archive überhaupt."
Facetten und Mosaiksteine der Kulturgeschichte lassen sich in dem seit Herbst 1993 vereinten Berliner Akademien-Archiv leichter finden als in den mittlerweile üblichen Spezialarchiven: Es ist multidisziplinär, angelehnt an die Sektionsstruktur der Akademie gibt es Bestände zur Bildenden Kunst und der Baukunst, aus den Bereichen Musik, Literatur, Darstellende Kunst sowie Film- und Medien.
"Das Besondere am Müller-Bestand sind die vielen Zettelchen"

So lässt sich etwa die Geschichte des Zwanziger-Jahre-Kabaretts "Schall und Rauch" minutiös rekonstruieren, denn dort mischten neben Autoren wie Walter Mehring, Klabund und Kurt Tucholsky auch die Komponisten Werner Richard Heymann, Friedrich Hollaender und Mischa Spoliansky mit. Sängerinnen und Schauspieler wie Blandine Ebinger und Gustav von Wangenheim waren ebenso mit von der Partie wie die Bildenden Künstler John Heartfield und George Grosz. Lauter Namen also, große und weniger bekannte. Auf jeden Fall Archiv-"Persönlichkeiten" – denn es gilt das Provenienzprinzip: Nachlässe – und zunehmend auch Vorlässe – bleiben in ihren charakteristischen Zügen erhalten, etwa bei Schauspielern:
"Bernhard Minetti hatte ein großes Archivzimmer, das wir erst nach seinem Tod betreten konnten: Das Archiv bestand aus einem großen Berg, der in der Mitte des Raumes über drei Meter aufragte. Auf der anderen Seite gab es so jemanden wie Fritz Wisten, künstlerischer Leiter des jüdischen Kulturbundes, der hatte jede Rolle – er hatte als Schauspieler begonnen – dokumentiert, aufgeschrieben, die Bände in Leder gebunden."
Bei aller Akribie – es bleiben Leerstellen und Lücken. Etwa die Frage, warum Peter Zadeks "Maß für Maß"-Inszenierung von 1967 und der "Torquato Tasso" von Peter Stein, bei dem die Regiearbeit seines Kollegen einen "faschistoiden Eindruck" hinterlassen hatte, beide unter dem bis heute nicht weiter definierten Rubrum "Bremer Stil" abgelegt werden. Und eine Welt für sich ist – und bleibt einstweilen – Heiner Müller, der Dramatiker und nach 1989 letzte Präsident der Akademie Ost.
"Das Besondere am Müller-Bestand ist, dass sich die Entwicklung der Stücke über unendlich viele Zettelchen erstreckt. Und insofern braucht der Archivar große Intuition und Kombinationsgabe um das Zusammengehörige aus dieser Vielzahl einzelner Blätter zusammenzufinden, um es auch entsprechend beschreiben zu können."
Weniger Intuition als vielmehr unendliche Geduld ist dagegen beim Schriftsteller Walter Kempowski vonnöten, der seine dokumentarischen Collagen wie "Das Echolot" aus sorgsam geführten Zettelkästen bestückte:
"Kempowski hat ja Familienalben und lose Fotokonvolute gesammelt. Das sind ungefähr 750.000 Fotografien aus dem deutschen Alltag. Das waren viele Jahre Arbeit, das war archivarische Kärrnerarbeit."
Besucher und Journalisten stehen auf der Terrasse der Akademie der Künste am Brandenburger Tor in Berlin
Journalisten auf der Terrasse der Akademie der Künste in Berlin© AP
Dauerhafte Digitalisierung als Herausforderung
Überzeugungsarbeit und diplomatisches Geschick sind außerdem gefragt, denn Wolfgang Trautwein leitet kein Staatsarchiv, dem die Bestände automatisch zuwachsen. So widmet er sich mit ebenso großem Nachdruck wie Einfühlungsvermögen dem Thema "Exil", dem Umgang mit Nachlässen der von den Nazis vertriebenen Künstler:
"Ein besonders beeindruckendes Beispiel war Artur Schnabel, der hat nie mehr auf deutschem Boden ein Konzert gegeben. Das bedurfte doch einer längeren Diskussion, dass die zerstörte Kultur, die 1933 zerstörte Kultur doch bei uns gut aufgehoben ist – genau um diese Verluste aufzeigen zu können."
Waren die "Aufbrüche in die Moderne" im 20. Jahrhundert von politischen und ideologischen Hindernissen verstellt, sind es heute die Folgen eines diffusen technischen Fortschritts, die dem Archiv zu schaffen machen. Von Wulf Herzogenrath, Kurator wichtiger Ausstellungen zur Medienkunst, gibt es ein Archiv mit 5000 Videobändern, aber niemand weiß, in welchem Format dieser Bestand einigermaßen dauerhaft digitalisiert werden kann. Und noch komplizierter sieht es bei den Architekten aus. Wolfgang Trautwein:
"Wir übernehmen gerade noch die Archive der letzten zeichnenden Generation, die auf Papier arbeitet – mit wunderbaren Architekturskizzen. Es gibt einen ganz starken Trend in der neuen Architektur am Computer zu entwerfen. Das sind ja sehr komplexe Entwurfsprogramme, die sich auch rasch verändern, überholt sind. Da stehen wir noch davor, staunend und ein bisschen hilflos."
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