Jüdisches Leben in Marseille
So wie hier werden Synagogen und andere jüdische Einrichtungen in Marseille nur an den großen Feiertagen beschützt. © AFP / Christophe Simon
Zwischen Falafel-Imbiss und gepackten Koffern
Die französische Hafenstadt Marseille hat eine große jüdische Gemeinde. Doch vor der Präsidentschaftswahl in Frankreich ist die Stimmung spürbar fragil: Das Erstarken der extremen Rechten, Salafismus und linker Antisemitimus machen vielen Angst.
Man muss sie beinahe suchen, die „jüdische“ Straße in Marseille. Eher unscheinbar präsentiert sich die Rue Saint-Suffren, die von einer belebten Hauptstraße mit Tramverkehr abzweigt. Hier ist es recht still an diesem Freitagmittag. Der Schabbat steht vor der Tür. Doch noch haben der Friseur, der Supermarkt und die Restaurants geöffnet. Dass all diese Geschäfte koscher sind, erkennt man nur an einem kleinen „K“ in der rechten oberen Ecke über dem Eingang, erklärt Emmanuel Attyasse.
Er kommt ursprünglich aus dem Elsass. In Marseille ist der Vater dreier Kinder so etwas wie die gute Seele der jüdischen Gemeinde. Hier in der Rue Saint-Suffren kennt ihn praktisch jeder. Attyasse unterrichtet Geschichte an einer jüdischen Schule und manchmal führt er Interessierte durch das jüdische Viertel.
Zweitgrößte jüdische Gemeinde am Mittelmeer
In Marseille gab es schon vor über 1500 Jahren eine jüdische Gemeinde. Die quirlige Hafenstadt im Süden Frankreichs beherbergt heute nach Tel Aviv die zweitgrößte jüdische Gemeinde am Mittelmeer. Gut 70.000 bis 80.000 Jüdinnen und Juden leben hier, das macht fast neun Prozent der Stadtbevölkerung aus. In Europa sind nur die Gemeinden in Paris, London und Budapest größer. Attyasse trägt Kippa, darüber hat er jedoch ein hellblaues Basecap gezogen. Die jüdischen Einrichtungen, erzählt er, seien mit Ausnahme der großen Synagoge nur an den hohen Feiertagen besonders geschützt.
„In Marseille gab es immer eine Koexistenz, aber auch eine Form des Misstrauens, stillschweigend“, sagt Attyasse. „Man redet nicht darüber, aber man weiß um die Gefahr, die immer präsent ist. Man ignoriert das nicht, auch wenn man vermeidet, groß Worte darüber zu verlieren.“
In den vergangenen Jahren ist die Gefahr für jüdische Menschen in Frankreich real geworden. Vor zehn Jahren wurden in Toulouse vor einer jüdischen Schule auf offener Straße ein Rabbiner und drei Kinder erschossen. Im Januar 2015 wurde parallel zum Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ ein koscherer Supermarkt in Paris angegriffen; vier Menschen starben. Vor vier Jahren, im März 2018, wurde die Shoah-Überlebende Mireille Knoll in ihrer Pariser Wohnung ermordet. Eine Tat, die Frankreich erschüttert hat. Die Täter hatten in all diesen Fällen einen islamistischen Hintergrund.
Jüdische Schulen als notwendige Schutzräume
Für die meisten französischen Jüdinnen und Juden geht das Leben trotz dieser Gefahr weiter. So auch im „Les saveurs du falafel“, einem kleinen Falafel-Imbiss im 6. Arrondissement. Caroline und Chaim Bensadoun halten ihn am Laufen. Chaims Falafel sind sehr beliebt in der Gegend. Er hat schon als Neunjähriger in Israel Falafel verkauft.
Das Ehepaar Cohen kommt regelmäßig ins Bistro. Sie sind beide schon in Rente und zurückhaltend, wenn es um ihr Jüdischsein geht: „Wir haben unsere Enkelkinder an jüdischen Schulen angemeldet, obwohl das absolut nicht unsere Einstellung ist. Absolut nicht! Aber leider sind wir gezwungen, so zu handeln.“
Auch Caroline Bensadoun, die Inhaberin des Bistros, sorgt sich um ihre Kinder: „Wir bezahlen sehr viel Geld. Unsere Kinder gehen alle drei auf private jüdische Einrichtungen. Kita und Schule, das kostet allein 850 Euro im Monat.“
Von den Parteien im Stich gelassen
Die rechtsextreme Partei Rassemblement National von Marine Le Pen mobilisiere gegen Menschen muslimischen Glaubens und sei daher bei einigen jüdischen Menschen beliebt, sagt Madame Cohen. So recht trauen sie und ihr Mann allerdings keiner Partei zu, wirksam vor Antisemitismus zu schützen.
„Keine Partei kann uns, den Juden, helfen“, sagt Cohen. „Es geht nicht um Antisemitismus. Das interessiert nicht groß. Man erwähnt es mal, man spricht darüber, aber nein, keine Partei wird irgendetwas für uns tun können. Keine einzige.“
Die Gefahr kommt ebenfalls von links
Im gleißenden Mittagslicht des Innenhofs der großen Synagoge stehen auf kleinen Marmorplatten Hunderte Namen ermordeter Jüdinnen und Juden. Die Mémoire de Shoah.
Viele Juden sorgen sich um ihre Zukunft in Frankreich, sagt Attyasse. Und er meint nicht nur wegen des wachsenden Salafismus im Land oder dem Erstarken der extremen Rechten. Man müsse auch auf die extreme Linke schauen, auf La France insoumise des Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon.
„Die extreme Linke hier in Frankreich hängt Verschwörungstheorien an“, sagt Attyasse. „Sie ist sehr antizionistisch eingestellt und betrachtet Juden durch die katholische Brille des Mittelalters.“
Jean-Luc Mélenchon benutze eine äußerst gewalttätige Sprache gegenüber der jüdischen Gemeinschaft, erklärt Emmanuel Attyasse. Das wecke gezielt antijüdische Bilder:
„Er hat kein Problem damit, die Regierungspolitik Israels den hier lebenden Juden zuzuschreiben. Auf genau dieselbe Art und Weise versucht die extreme Rechte glaubhaft zu machen, dass es so eine Art vote juif gebe, dass französische Juden alle nur für eine Partei stimmen würden. Das amüsiert uns, weil wir uns in den Synagogen leidenschaftlich über Politik streiten. Es gibt große Gegensätze zwischen denen, die links wählen, und denen, die rechts wählen.“
Wachsende Entfremdung der Jüngeren
Die Stimmung in der Hafenstadt Marseille, die mit ihrem Flair, dem Klima, ihrer mediterranen Gelassenheit Städten wie Tel Aviv oder Algier näher ist als Paris oder Straßburg, sei dennoch anders. Viele Einwanderer der älteren Generation aus dem Maghreb erinnerten sich noch ihrer jüdischen Nachbarn. Die Entfremdung der Jüngeren nehme allerdings auf beiden Seiten zu. Sorge macht Attyasse die wachsende Radikalisierung unter jungen Muslimen. Das sieht auch Nathan Peres so. Er ist vor sechs Jahren nach Marseille gekommen.
„Also wenn ich mit Menschen spreche, die noch aus Algerien oder Marokko oder Tunesien hier eingewandert sind, also die ältere Generation, die haben noch mehr ein Interesse an interkulturellem Austausch, weil sie selber noch mit Muslimen und Christen aufgewachsen sind.“
Die nachkommende Generation sei traditioneller geworden, so Peres, der an der Université Aix-Marseille Nahoststudien unterrichtet. Die sefardisch geprägte jüdische Gemeinschaft in Marseille erlebt er als sehr traditionell. Dennoch fehle ihm etwas.
„Es ist sehr leicht, koscher zu essen, es gibt überall koschere Cafés, Supermärkte“, sagt Peres. „Also was das traditionell jüdische Leben anbetrifft, ist es natürlich ein Traum, hier zu leben. Was das kulturelle Leben betrifft, gibt es fast nichts.“
Es sei ein sehr nach innen gewandtes, zurückgezogenes Leben. „Es gibt eine Rückkehr zur Religiosität“, sagt er. „Kein Extremismus, das sicher nicht. Aber die Prioritäten sind: traditionelle Familien und religiös orientierte Werte.“
Viele wandern aus
Innerhalb von 20 Jahren sei die jüdische Gemeinschaft in Frankreich von gut 600.000 auf 480.000 Gemeindemitglieder zurückgegangen, so schätzt Emmanuel Attyasse. In Frankreich sind die viel zitierten „gepackten Koffer“ bereits real. Israel, die USA oder die französischsprachige Provinz Québec in Canada, aber auch die Schweiz, sind begehrte Ziele.
Zurück im Falafel-Imbiss von Caroline Bensadoun: Sie lehnt am Türrahmen ihres Restaurants und nippt an einer Coladose, Motorräder rasen vorbei, der Ventilator im heißen Imbiss dreht sich pausenlos.
„Ich fühle mich nicht wohl“, sagt sie. „Ich meine, ich bin in Marseille geboren, aber ich kann meine Religion nicht so praktizieren, wie ich eigentlich will. Ich fühle mich gestört. Wenn ich Lust habe, eine Kette mit Davidstern zu tragen, werde ich damit nicht überall hingehen. Mein Mann wird mir sagen, wenn Du in die Stadt gehst, trage sie nicht. Mein Mann trägt seine Kippa unter einer Mütze.“
Das Bistro laufe eigentlich bestens, sagt Caroline Bensadoun. Die Pläne der Bensadouns für einen Neuanfang in Israel stehen dennoch. Caroline will jetzt Hebräisch lernen und mit ihrer Familie Frankreich noch in diesem Jahr den Rücken kehren. Caroline und Chaim Bensadoun haben sich entschieden. Madame Cohen sagt, sie sei zu alt zum Auswandern. Emmanuel Attyasse fühlt sich wohl in Marseille. Wer sich mit Jüdinnen und Juden in Marseille unterhält, spürt, wie fragil die Stimmung ist. Wie auch immer die Wahl am Sonntag ausgeht: Die Ängste und Sorgen, die viele zur Auswanderung bewegen, werden so schnell nicht verschwinden.