Zwischen Angst und Selbstbehauptung
Juden in Deutschland fühlen sich zunehmend unsicher. Sie verstecken ihre Kippa oder vermeiden es, in die Synagoge zu gehen. Eine beunruhigende Entwicklung - doch in Berlin wehren sich manche von ihnen. Entweder mit Worten oder mit Taten.
30 Männer und fünf Frauen in schwarzer Kleidung. Sie traktieren sich gegenseitig mit Schlägen und Tritten, paarweise: Einer greift an, der andere wehrt die Attacken mit einem dicken Schaumstoff-Polster ab. Berlin-Neukölln, in der Sportschule Choi: Training in der jüdischen Kampf-Disziplin Krav Maga.
"Ich mache Krav Maga, weil es eine sehr effiziente Art der Selbstverteidigung ist. Zum einen ist es wichtig, dass ich mich körperlich fit halte – weil ich nicht mehr der Jüngste bin. Und zum anderen finde ich es wichtig in den heutigen Zeiten, dass man einfach in der Lage ist, sich zu wehren."
Dan-Yot Grunert - grauer Stoppelbart, Halbglatze und stämmige Figur - ist 54 Jahre alt und Fahrradhändler. Und Jude. Grunert sorgt sich immer mehr um seine Sicherheit, wenn er in bestimmten Berliner Bezirken unterwegs ist. Er denkt dabei an die Anschläge in Brüssel, Paris und Kopenhagen. Und daran, dass es auch in Deutschland immer mehr radikalisierte Muslime gibt.
"Ich habe schon Vorbereitungen getroffen. Ich vermeide öffentliche Verkehrsmittel. Und ich vermeide zu bestimmten Zeiten in bestimmte Orte zu fahren. Sind bestimmte Orte im Wedding, sind bestimmte Orte in Neukölln. Wie heißt es so schön? No-Go-Areas! Wo sozusagen schon die Scharia herrscht. Da muss ich nicht sein! Einen Döner kann ich auch woanders essen."
Dan-Yot Grunert schlägt pausenlos - mit der flachen Hand, mit der Faust, mit dem Ellenbogen, mit dem Knie und mit dem Fuß. Der jüdische Sportler weiß: Im Notfall muss die Abwehr reflexhaft erfolgen; der Angreifer muss blitzartig getroffen werden.
"Also da, wo es weh tut. Das heißt also: Genitalien, bestimmte Punkte im Gesicht, Solarplexus, Leistengegend. Im Extremfall auch die Ohren. Wenn ich halt mich entschieden habe, nicht die andere Wange hinzuhalten, dann ist Krav Maga ne äußerst wirkungsvolle Art und Weise, um sich zu verteidigen."
Ortswechsel. Ein Altbau in Berlin-Charlottenburg, im Seitenflügel eine Wohnung mit Stuckdecken und Dielen. Im Wohnzimmer – über der Couch: ein großes, dreiteiliges Jerusalem-Foto. Auf dem Tisch: Wassergläser. Zu Besuch bei Marina, einer 35-jährigen Jüdin, von Beruf Logistik-Fachfrau.
Sie ist immer unruhig, wenn sie eine Synagoge betritt
Marina – lange dunkle Haare, lilafarbene Jacke - möchte ihren Nachnamen nicht veröffentlichen. Weil sie sich nicht sicher fühlt. Seit den jüngsten Todesschüssen in Frankreich und Dänemark ist sie unruhig, wenn sie eine Synagoge oder ein Gemeindehaus in Berlin betritt.
"Wenn man reingeht, denkt man automatisch: Es könnte auch hier etwas passieren. Aber deswegen die Gemeinde oder sonst noch welche jüdischen Einrichtungen zu meiden, würde heißen, dass wir uns verstecken. Und ich bin nicht bereit, meine Identität zu verstecken oder zu verbergen. Die Bedenken sind aber selbstverständlich da."
Die Jüdin ist noch erschüttert vom vergangenen Sommer, als es bei den bundesweiten propalästinensischen Demonstrationen immer wieder antijüdische Ausschreitungen gab. In Berlin wurden etwa Hass-Sprüche wie "Jude, Jude, feiges Schwein" gegrölt. Marina hat dabei Solidarität vermisst von den nichtjüdischen Berlinern. Kurzzeitig wollte sie sogar emigrieren – so wie rund 7000 französische Juden, die im vergangenen Jahr nach Israel gegangen sind. Der Strom hält an, erst recht seit den jüngsten Anschlägen.
"Im Sommer muss ich sagen, habe ich mit dem Gedanken gespielt, eventuell aus Deutschland auszuwandern. Aber zu sehr habe ich mich mit der Frage dann doch nicht beschäftigt, weil ich immer noch an Deutschland glaube und dass Deutschland niemals wieder so was zulassen wird."
Doch Marina bleibt vorsichtig. Beispielweise, erzählt sie, habe sie jahrelang einen Davidstern an der Halskette getragen – ohne sich darum zu kümmern, ob der Schmuck über oder unter ihrem T-Shirt hing. Neuerdings achte sie jedoch mehr auf das jüdische Symbol.
"Um ehrlich zu sein, wenn ich irgendwo alleine unterwegs bin, im Dunkeln, werde ich darauf achten, dass es unter meinem T-Shirt ist. Und da ist natürlich die Sicherheitsfrage an erster Stelle. Klar. Gab ja auch genug Vorfälle auf der Straße, wo in Düsseldorf Leute verprügelt wurden, in Berlin auf dem Ku'Damm - auf offener Straße."
"Wir leben in dieser Situation schon die ganze Zeit. Diese Vorsicht haben wir immer schon gehabt. Und man hat sich einfach dran gewöhnt."
Arabisch- und türkischstämmige Kinder machten ihm das Leben schwer
Marina hat einen Freund zu Besuch: Eyal, 22 Jahre alt, ein eloquenter Student mit brauner Brille und grauem Pullover.
"Angst habe ich nicht, das ist einfach Alltag geworden."
Eyal - der seinen Nachnamen ebenfalls nicht nennen möchte - weiß, dass in der Hauptstadt bereits ein Rabbiner zusammengeschlagen wurde - von vermutlich arabischen Jugendlichen. Zuletzt verprügelten - ebenfalls vermutlich muslimische - Migranten in der Neujahrsnacht einen Israeli in der Berliner U-Bahn. Eyal hat selbst schon antisemitische Anfeindungen erlebt, in seiner Schulzeit. Arabisch- und türkischstämmige Kinder machten ihm damals das Leben schwer.
"Ich erinnere mich an einen Moment, den werde ich, glaube ich, niemals vergessen. Da war ich zwölf Jahre alt. Da sind wir in einer Sportkabine. Und ein Mitschüler fängt an zu sagen: Diese Scheißjuden! Und ich frage ihn so – und er wusste von mir persönlich noch nicht, dass ich jüdisch bin - ich frage: Warum denn? Ach Mann, die sind alle scheiße. Das war seine Antwort. Und ich wünschte, es gäbe Hitler wieder, er würde sie alle vergasen."
Die Diskriminierung wurde so unerträglich, dass Eyal von der Regelschule auf die jüdische Oberschule wechselte.
"Weil wenn Leute da rumlaufen und bei jedem zweiten Wort als Schimpfwort sagen 'Sie Jude!' - wie fühlt man sich denn da?"
Trotz dieser Erfahrungen betrachtet der jüdische Student Deutschland als seine Heimat; eine Auswanderung nach Israel ist für ihn überhaupt kein Thema.
"Deutschland verlassen wegen solchen Geschichten würde ich nicht, auf keinen Fall. Dann haben sie gewonnen. Ja, dann haben sie das erreicht, was sie haben wollten. Ich würde aus Prinzip bleiben. Und ich würde aus Prinzip sagen: Hier, das jüdische Leben gibt es noch in Deutschland – und das wird es auch immer geben."
Zurück zum jüdischen Kampfsport. Beim Feierabend-Training geht man davon aus, dass selbstbewusstes Auftreten allein nicht ausreicht. So übt Fahrradhändler Dan-Yot Grunert den realen Ernstfall: Dreimal pro Woche übt er Krav Maga – übersetzt "Kontakt-Kampf".
"Und da passiert es schon mal, dass man in eine Faust rennt, dann blutet die Nase, oder das man eine aufgeplatzte Augenbraue hat oder so, wenn man mit den Köpfen zusammenschlägt. Das ist halt völlig normal! Das ist nicht – weder von dem Partner noch von mir dann böse gemeint, sondern das passiert dann im Eifer des Gefechtes, das ist alles schon runter geregelt, aber es lässt sich nicht ausschließen."
Kampftechnik gegen brutale Nazi-Horden
Krav Maga wurde in den 1930er Jahren in der Slowakei entwickelt - vom jüdischen Sportler Imrich Lichtenfeld. Dieser wollte seinen Freunden neue Kampftechniken beibringen, damit sie sich gegen brutale Nazi-Horden verteidigen konnten. Lichtenfeld übernahm die Techniken zumeist von asiatischen Sportarten; allerdings mussten sie schnell erlernbar und straßentauglich sein. Grundsätzlich gilt: Nur wer angegriffen wird, darf auch zuschlagen. Und auch nur, wer nicht mehr weglaufen kann. Wegrennen gilt hier nicht als feige, sondern als weise. In der Berliner Sportschule ist heute rund jeder zehnte Trainingsteilnehmer jüdischer Herkunft. Andere Juden absolvieren solche Kurse innerhalb der Berliner Gemeinde; für die Religionsgemeinschaft sind wehrhafte Mitglieder von existentieller Bedeutung.
"Die israelische Armee hat dieses Verteidigungssystem übrigens als Standard-Verteidigungssystem für seine Streitkräfte. Allerdings in etwas abgewandelter Form. Also sehr viel tödlicher und sehr viel kompromissloser als in Deutschland."
Hart auf hart geht es auch an einem anderen Berliner Ort zu: in einem Club in Kreuzberg. Eine kleine Bühne mit grellen Scheinwerfern, drumherum: junge, nervöse Männer in Basecaps und Kapuzenshirts, darunter viele türkisch- und arabischstämmige Migranten. Sie besuchen das mittlerweile legendäre Hip-Hop-Event "Rap am Mittwoch". Hier kämpft ein Jude mit ganz anderen Mitteln gegen antisemitische Gefahren: mit Musik. Eventleiter und Künstler Jonathan Kalmanovich, genannt Ben Salomo, hat eine Mission.
"Mich Ben Salomo zu nennen, war der erste Schritt, jedem aufzuzeigen: Hey, pass mal auf, das sind meine Wurzeln. Hast du was dagegen, wechsel lieber gleich die Straßenseite!"
Der 37-Jährige Rapper hat eine bewegende Geschichte zu erzählen: Jonathan wurde in Israel geboren, doch als er vier Jahre alt war, wanderte seine Familie aus wirtschaftlichen Gründen nach Berlin aus. In seinem neuen Kindergarten verstand Jonathan kein Wort. Auch später sei er immer wieder zum Außenseiter geworden, erzählt der Musiker.
"Ich hatte da Kids, mit denen ich aufgewachsen bin mit palästinensischem Background. Und mit denen habe ich anfangs noch Murmeln gespielt. Dann irgendwann aber gabs auch mal dann Auseinandersetzungen! Wenn man älter wurde. Weil man plötzlich Israeli war und Jude war – und die waren halt Palästinenser."
Das Migrantenkind hatte seinen Stolz. Wenn es nach seiner Herkunft gefragt wurde, antwortete es immer selbstbewusst: Israel. Trotz aller Nachteile.
"Dann wurde man in den nächsten Tagen oder Wochen hier und da diskriminiert oder beim Fußballspielen wollten die Leute einen nicht mehr in der Mannschaft haben. Da fühlte ich mich schon definitiv alleine mit."
Doch Jonathan Kalmanovich ließ sich nicht alles gefallen. Wollten ihn Kinder auf dem Schulhof schlagen, prügelte er zurück. Denn er hatte Taekwondo gelernt und Karatefilme gesehen. So erkämpfte er sich Respekt.
"Niemand will einen Gegner haben. Also jemand, der diskriminiert oder jemand, der jemanden – so wie wir das früher gesagt haben – opfern möchte. Ja, du wurdest geopfert, das ist ein totaler Slangbegriff aus Berliner, aber inzwischen auch darüber hinaus Milieus, darf man sich nicht opfern lassen, darf man kein Opfer sein. Muss man Gegner sein. Danach wurde man akzeptiert. Also dann war man zwar Jude und Israeli – aber der ist okay!"
"Ich machs wie mit deinen Vorfahren – ab ins Gas!"
Der Jugendliche fand seine Bestätigung zuerst im Sport, beim American Football – wo Migrantenkinder aller Nationen fair miteinander umgingen. Dann kam er zum Hip-Hop; Breakdance und Rap wurden seine Welt. Heute ist Kalmanovich eine Instanz in der Musik-Szene. Bei seinem "Rap am Mittwoch" liefern sich Hip-Hopper mit aggressiven Text-Zeilen, Lines, harte Kämpfe, Battles. Doch selbst bei seiner eigenen Veranstaltung bekommt der Jude antisemitische Sprüche zu hören. Mit der Zeit hat sich Ben Salomo dagegen gewappnet.
"Also, wenn einer zu mir sagen würde: Hier in diesem Battle wirst du krass verarschst, ich machs wie mit deinen Vorfahren – ab ins Gas! Das ist eine sehr geschmacklose Line, im Battlerap aber erlaubt. Aber ich habe dann die Möglichkeit zu sagen: Pass mal auf, wie meine Lines dich jetzt ausbomben. Ich bin der Jude, der aus dem Ofen wieder rauskommt! Das klingt selbstbewusst und das hebelt alles vorher Gesagte wiederum aus!"
Ben Salomo erklärt die Spielregeln: Beim Battlerap gebe es keinerlei Zensur. Wer allerdings zu stark beleidige, werde ausgebuht.
"Aber das Wichtigste, wenn die Musik aus ist, geben sich diese beiden Protagonisten die Hand, umarmen sich und zeigen: Wir alle sind eins, wir sind Menschen!"
Jonathan Kalmanovich hat zwar keinen Berufsabschluss, aber Szene-Erfolg. Sein Rap-Kanal auf Youtube wird monatlich fast eineinhalb Millionen Mal angeklickt. Der 37-Jährige kann von der Musik leben. Nun bringt der jüdische HipHopper eine eigene Rap-CD auf den Markt. Die mp3-Files der ersten produzierten Songs hat er in seinem Handy gespeichert. Sie klingen angriffslustig.
"Als Mann kommt es mir vor, als würde ich auf dem Gipfel des Berges Sinai stehen, doch vor euch steht kein Feigling, ich nehme all meinen Mut zusammen, wenn seine Stimme meinen wählt: Jonathan Ben Salomo..."
Die einen Juden geben sich kämpferisch – ob auf der Bühne oder beim Sport. Die anderen sind eher still und nachdenklich, vorsichtig und besorgt. So wie Irina, 33 Jahre alt und Verwaltungsangestellte.
"Man macht sich bestimmt mehr Sorgen, wenn man Kinder hat, als wenn man keine Kinder hat. Wenn man keine Kinder hat, macht man sich nur um sich selber Sorgen oder um den Partner, Eltern. Und hier macht man sich natürlich um die Kinder Sorgen, die einem eigentlich das Wichtigste auf der Welt sind."
Turbulent und laut geht es zu – und auf Russisch. Eine russisch-jüdische Kindertagesstätte in Berlin-Schöneberg. An der Tür: eine Mesusa, die traditionelle, fingergroße Schriftkapsel – ein Zeichen, dass Gott über dieses Haus wacht. An der Wand: ein Kalender der jüdischen Feiertage. Auf dem Tisch: ein Spiel mit dem hebräischen Alphabet. Wenn Irina ihre Tochter hierher bringt, hat sie immer etwas Angst. Die Mutter, die anonym bleiben möchte, denkt dabei an Paris und Kopenhagen. Und an einen Vorfall, den sie auf einem Spielpatz erleben musste, direkt vor ihrer Haustür.
"Da waren Frauen, die eben blöde Sprüche gemacht haben. 'Juden hier auf dem Spielplatz!' und solche Sachen. Ich hatte ein kurzes Oberteil an und da hat man die Kette mit dem Davidstern gesehen. Habe einfach so gemacht, als ob ich das nicht höre. Ich bin stolz darauf, dass ich jüdisch bin, uns so verhalte ich mich auch, indem ich das einfach überhöre."
Von außen nicht als jüdisch zu erkennen
Irina, die aus der Ukraine stammt, ist froh, dass vor der Kita absichtlich kein Wachmann steht. Aus gutem Grund: So ist die Einrichtung von außen nicht als "jüdisch" zu erkennen. Ähnliche Tarnungsmaßnahmen hat kürzlich die Zeitschrift der Jüdischen Gemeinde zu Berlin ergriffen: Das Monatsblatt wird jetzt nur noch in einem neutralen Umschlag verschickt – damit die Abonnenten nicht von ihren Nachbarn als Juden erkannt werden.
"Ich finde es sehr traurig, ich finde, dass wir uns ein bisschen wieder zurückentwickeln in die Jahre, die hier mal waren. Dass man sich verstecken muss."
Irinas zweite Tochter geht auf die jüdische Oberschule der Hauptstadt. Die Eltern dort seien alle sehr unruhig seit den Anschlägen in Frankreich und Dänemark, berichtet die Mutter. Denn jeder Extremist könne das Gymnasium in der Berliner City schnell finden – allein schon wegen der vielen Polizisten an der Pforte.
"Die Sorgen haben zugenommen. Und die Eltern wollen wissen, wie die reagieren sollen oder wie die Schule reagiert, wenn sowas passiert. Da eben da weiß man: Ich muss einfach nur googeln 'Jüdische Oberschule' – und da finde ich sofort, wo das ist."
"Das erlebt man öfter, dass Leute sagen 'Scheiß Juden!' oder 'Die Juden sind an allem schuld', das hört man nach wie vor. Ich habe auch schon Hakenkreuze auf meinem Briefkasten gehabt."
In der Berliner Kampfsportschule bereitet sich Dan-Yot Grunert auf tätliche Angriffe vor. Auf jeden Fall sollte man die Selbstverteidigungstechniken beherrschen, bevor man attackiert werde, lautet seine Botschaft.
"Erst wenn man so eine Erfahrung gemacht hat, dass man mit Gewalt konfrontiert wurde, die man selber nicht wollte und auch nicht steuern kann, dann kommen viele Leute – wenn sie hinterher noch die Möglichkeit dazu haben – etwas zu trainieren. Es geht wirklich nur darum: Jemand, der nur seine Ruhe haben möchte, und in Frieden leben möchte, der sollte auf jeden Fall solche Dinge beherrschen."
Juden, die kämpfen. Und Juden, die in Angst leben. Eine dritte Gruppe hingegen sieht gar kein Problem. Berlin-Neukölln, mitten im türkisch-arabischen Migrantenkiez. Ein kleiner Coffeeshop mit hebräischen Buchstaben an der Eingangstür. Innen: selbst gezimmerte Sperrholzmöbel, selbst gebastelte Blumenampeln und selbst produzierte Schallplatten an der Wand. Willkommen im neuen israelischen Musik-Café Gordon.
"Berlin ist die Hauptstadt der elektronischen Musik, die Techno-Hauptstadt! Und die meisten Israelis, die nach Berlin kommen, sind wegen der Kultur hier. In Deutschland hast Du einfach unzählige Möglichkeiten. Auch wegen der Kulturförderung. In Israel findest Du so etwas nicht!"
Cafébtreiber Nir Ivenizki gehört zu einer Generation junger Israelis, die Berlin "hip" finden. Mittlerweile sollen es bis zu 20.000 sein, die an der Spree leben. Weil Wohnungen und Essen hier billiger sind als in Tel Aviv. Und weil die Berliner Partyszene lockt. Der 32-jährige studierte Politikwissenschaftler will hier mit politisch-religiösen Feindbildern, die in seinem Heimatland gang und gäbe sind, nichts zu tun haben. Juden und Muslime können friedlich miteinander auskommen, glaubt der Zuwanderer. Schlechte Erfahrungen habe er in Berlin noch nicht gemacht, im Gegenteil.
"Einmal kam ein Marokkaner und wollte einen richtig guten Kaffee trinken. Ich erklärte ihm, dass unser Kaffee einzigartig ist und servierte ihm eine Tasse. Seitdem ist er drei Mal wieder gekommen. Obwohl an unserer Tür hebräische Buchstaben stehen - die Schrift ist Teil unseres Geschäfts-Logos. Aber wir haben da keine Angst."
Ivenizki hat kein Problem mit Deutschland - im Gegensatz zu seiner Großeltern-Generation. Die Eltern von Nirs Vater zum Beispiel haben in Osteuropa die Shoah überlebt – und waren besorgt, als ihr Enkel vor sieben Jahren auswanderte ins "Land der Täter".
"Sie waren Partisanen und haben in den Wäldern gegen die Nazis gekämpft. Aber ich habe versucht ihnen ein anderes Deutschland-Bild zu vermitteln – in Verbindung mit der Musik und der Kultur. Trotzdem waren sie um mich besorgt, weil sie das heutige Deutschland nicht verstehen. Sie waren einfach in den 20er und 30er Jahren hängen geblieben, mit dem Bild von Nazis auf den Straßen."
Hat der jüdische Zuwanderer keine Angst, dass seine Tür – ähnlich wie einst bei seinen Großeltern – auch eingetreten wird? Eingetreten zwar nicht von Nazis, aber vielleicht von radikalisierten Arabern? Etwa wenn der Nahostkonflikt mal wieder hochkocht? Nir Ivenizki schüttelt den Kopf: Er fürchte sich nicht in dem muslimisch geprägten Berliner Viertel.
"Ich habe deutsche Freunde, die Angst haben, hierher nach Neukölln zu fahren! Deutsche, die in Berlin geboren sind, haben Angst, nach Neukölln zu fahren! Hey Mann, das ist Euer Land! Ich denke, Du kannst wählen, ob Du in Probleme verwickelt werden willst oder ob Du sowas ignorierst. Lass Dich nicht ablenken!"
Viele Juden zeigen Übergriffe gar nicht mehr an
Ist die Lage vielleicht doch nicht so dramatisch? Haben – seit den Anschlägen in Brüssel, Paris und Kopenhagen – hierzulande doch nur einzelne Juden Angst vor Übergriffen?
Ein nobles Bürgerhaus im idyllischen Potsdam - vor den Toren Berlins. Holztreppen, Holzdielen und hölzerne Dachbalken – ein beschaulicher Ort. Zu Besuch im Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien. Das universitäre Institut hat an einer Untersuchung mitgewirkt zum Sicherheitsgefühl von Juden. Inmitten hoher Bücherregale, Aktenberge und Papierstapel berichtet Politikwissenschaftler Gideon Botsch von einem brisanten Umfrage-Ergebnis.
"Die Frage, die gestellt wurde, war: Nehmen Sie manchmal oder immer Abstand davon, jüdische Gottesdienste, Synagogen oder Veranstaltungen, die offenbar als jüdisch wahrnehmbar sind, zu besuchen – aus Angst, auf dem Weg dorthin beleidigt, beschimpft oder gar angegriffen zu werden? Und da gab es einen bedeutenden Anteil an Rückmeldungen, die sagten: Ja, das tue ich."
Laut der Umfrage mit 600 Teilnehmern vermeidet jeder fünfte deutsche Jude bestimmte Orte, um nicht attackiert zu werden. Zudem vermeidet jeder fünfte Jude, in der Öffentlichkeit jüdische Symbole zu tragen – wie den Davidstern oder die traditionelle Kopfbedeckung Kippa. Dabei wurden die Daten bereits 2012 erhoben, vor dem vergangenen Sommer mit seinen propalästinensischen und antisemitischen Demonstrationen. Also noch in einer relativ ruhigen Zeit. Ähnlich sehe die Statistik für die gesamte EU aus, bilanziert der Experte.
"Das sagt in erster Linie – wenn Sie es wirklich als belastbare politikwissenschaftliche Aussage fixieren wollen, dass die Juden in Europa massiv verunsichert sind."
Forscher Gideon Botsch ist alarmiert: Denn viele Juden gaben an, dass sie antisemitische Übergriffe überhaupt nicht mehr anzeigen bei der Polizei. Es würde sich sowieso nichts ändern, so das bittere Fazit.
"Das hat auch die Konsequenz, dass Juden sich allein gelassen fühlen mit ihrer 'Betroffenheit'."
"Ich glaube, dass Juden immer gefährlich gelebt haben. Das ist einfach aus der Geschichte abzuleiten. Dass die Art und Weise, wie mit Juden umgegangen wurde, und auch teilweise wird, sich so schnell nicht ändert."
Der 54-jährige Dan-Yot Grunert hat bislang keine tätlichen Angriffe erleben müssen – jedenfalls nicht als Jude. Zwar habe er einmal im Straßenverkehr Krav Maga angewendet, als ein wütender Autofahrer auf ihn losgegangen sei. Mit einem Handhebel konnte er den Angreifer von sich fernhalten. Immerhin fühle er sich jetzt, nach jahrelangem Training, gewappnet für wirklich brenzlige, antisemitische Attacken. Als Jude müsse man sich immer selbst helfen können, so seine Bilanz.
"Ich werde in bestimmten Situationen besser fertig. Also ich merke, es entwickelt sich eine Gewaltspirale, eine Eskalation entwickelt sich - und ich kann eingreifen. Und das hat jemand, der nicht vorbereitet ist, wahrscheinlich nicht so in seinem Repertoire."