Riten, Romane und religiöse Seminare
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Die jüdische Religion war in der Sowjetunion nicht verboten. Aber Jüdinnen und Juden wurden immer wieder diskriminiert. Manche lebten Religion und Kultur im Untergrund aus - mit Romanen in Selbstverlagen und heimlich gefeierten Festen.
"Die Juden haben eine besondere Nische gehabt in der Sowjetunion. Sie waren einerseits offiziell akzeptiert, es gab offiziell niemals Antisemitismus, aber Judentum, jüdische Kultur gab es ja tatsächlich wenig. Und jüdische Themen wurden so halb tabuisiert."
Klavdia Smola leitet den Lehrstuhl für slavische Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Sie forscht zum kulturellen jüdischen Leben in der Sowjetunion. Stalin veranlasste antisemitische Hetze: Er ließ jüdische Ärzte und Schriftsteller verhaften und foltern – den Schauspieler und Leiter des Moskauer jiddischen Theaters, Solomon Michoels, ließ er ermorden. Auch nach Stalins Tod gab es immer wieder antijüdische Kampagnen und eine antijüdische Politik – auch wenn dies nicht offen ausgesprochen wurde.
"Das war eine verschleierte Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung und sie war sehr schwer nachzuweisen, weil wir viele jüdische Vertreter sowohl in der Partei als auch in der offiziellen Kultur hatten. Sowjetische Juden waren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr stark assimiliert."
Suche nach religiösen Wurzeln
Nur wenige jüdische Sowjetbürgerinnen und -bürger identifizierten sich mit den überlieferten Traditionen des Judentums. In der atheistischen UdSSR war es grundsätzlich schwierig, Gottesdienste oder religiöse Feste im öffentlichen Raum zu feiern.
Auch die jüdische Herkunft verlor an Bedeutung: In den Familien wurde Russisch gesprochen, selbst wenn die Älteren noch mit Jiddisch als Muttersprache aufgewachsen waren. Allerdings gab es eine kleine Schicht – es waren vor allem Intellektuelle, die sich ihren jüdischen Wurzeln wieder zuwandten. Unter ihnen gab es plötzlich starkes Interesse, nach Israel auszuwandern.
"Schon in den 1960er Jahren gab es die ersten Anträge auf Ausreise, und die Juden haben das als Repatriierung beziehungsweise Alija bezeichnet, das ist ganz interessant, weil das bedeutete, dass die assimilierten sowjetischen Juden Israel, das gelobte Land, als ihr Vaterland betrachtet haben, das war noch in den 1950er Jahren sehr wenig wahrscheinlich. Da war das Vaterland der sowjetische Staat."
Alija bedeutet wörtlich "Aufstieg" und wurde in der Moderne zum zionistischen Begriff. Wenn jüdische Menschen sich entscheiden, aus einem anderen Land nach Israel einzuwandern und israelische Staatsbürgerinnen zu werden, spricht man von Alija.
Eine wichtige Rolle für die Entscheidung zu diesem Schritt spielte für die sowjetischen Jüdinnen und Juden der Sieg Israels im Sechs-Tage-Krieg, der nach Smolas Worten "eine Enthusiasmus-Welle in Gang gesetzt hat".
Vor allem daraus entwickelte sich eine jüdische Underground-Bewegung. Aber auch aus dem gesellschaftlichen Klima der Zeit. Nach der sogenannten Tauwetterperiode der 50er Jahre, in der Parteichef Chruschtschow mehr Freiheiten im Bereich der Kunst und Kultur zugelassen hatte, waren die Restriktionen in den 60er Jahren bereits wieder verschärft worden.
Kulturseminare in der Küche
Verschiedene Gruppen von politischen und kulturellen Dissidenten erschufen sich intellektuelle Sphären jenseits der staatlichen Kontrolle. Der jüdische Underground war also eine von vielen geheimen Bewegungen:
"Das waren Selbstverlage, das waren geheime Seminare der jüdischen Kultur, die privat abgehalten wurden in den Wohnungen und in den berühmt-berüchtigten Küchen. Küche war ein sehr wichtiger Ort in der sowjetischen Underground-Kultur, da hat man gesprochen, man hat geraucht und getrunken, und das war ein bisschen so eine Bohème-Kultur. Oder es wurden auch Riten, also Traditionen begangen, zum Beispiel Jom Kippur, oder Purim, oder Bar Mitzwa und Bat Mitzwa."
Im größeren Rahmen wurde nur der Feiertag Simchat Tora öffentlich begangen, das Fest der Torafreude: Weil die Synagogen geschlossen waren, tanzten die Feiernden mit Tora-Rollen auf Straßen und Plätzen – oft vor den Synagogen.
Meist konnten jüdische Feste jedoch nur im Verborgenen stattfinden. Prägend für die Underground-Kultur war zum einen die künstlerische und politische Auseinandersetzung mit dem Holocaust, der im offiziellen sowjetischen Diskurs verschwiegen wurde.
Außerdem spielte die Wiederentdeckung der religiösen Tradition eine wichtige Rolle: "Deswegen würde ich sagen, dass die gesamte jüdische Bewegung dieser Jahre sehr stark biblisch angehaucht war, inspiriert durch die biblischen Quellen, aber dadurch auch sehr stark überhöht, mythisch und biblisch überhöht."
Klavdia Smola analysiert vor allem literarische Texte der 1960er bis 1980er Jahre. Zum Beispiel die Prosa des Schriftstellers Eli Ljuksemburg, der – wie so viele – seine jüdische Identität erst als Erwachsener für sich entdeckte.
"Eli Ljuksemburg war ursprünglich ein Sportler, ein Boxer, und ist gläubiger Jude geworden unter dem Einfluss eines Rabbiners, der Chasside war. Der chassidische Glaube hat ihn sehr stark beeinflusst und und er hat mystische Texte geschrieben, unter anderem 'Der Dritte Tempel'."
Dritter Tempel zwischen Viehhof und Toiletten
"Chassidim" bedeutet wörtlich "die Frommen". Und der Chassidismus ist eine volkstümliche jüdische Bewegung, die sich historisch vom gelehrten Judentum abgrenzt und großen Wert auf Fröhlichkeit legt. Heute ist sie Teil der Ultraorthodoxie.
Eli Ljuksemburgs Erzählung aus den 1970er Jahren spielt in einer Psychiatrie im tadschikischen Mittelasien. Die Hauptfigur, der Insasse Isaak Fudym, leidet an Halluzinationen und Verfolgungswahn. Er wähnt sich im gelobten Land Israel und hat in seinem Geist den Bau des Dritten Tempels auf dem Berg Zion beinahe abgeschlossen.
Zwei Tempel gab es in der jüdischen Geschichte in Jerusalem, den dritten erwartet die jüdische Religionsliteratur zusammen mit der Ankunft des Messias. So heißt es in dem Roman:
"Fudym errichtete den Tempel zwischen der öffentlichen Toilette und dem Viehhof. Selbstverständlich hat den Tempel noch nie jemand gesehen, er wurde allein in der Phantasie des genialen Baumeisters erbaut, der bei jedem Wetter, ob Frost oder Hitze, auf dem Bauplatz blieb."
Der leitende Arzt der Anstalt, der Medizin-Professor Kara-Chan, sieht darin allerdings keinerlei politische Dimension:
"Er nennt das nämlich Palästinomanie, und er betrachtet das als eine besondere, neue Erkrankung. Hier vermischt sich schon das Thema der psychischen Erkrankung und der politischen Strafmedizin", so Smola: "Strafmedizin ist ein großes Thema in Bezug auf die Sowjetunion – die Andersdenkenden, also Dissidenten, wurden relativ oft eingewiesen in psychiatrische Anstalten."
Der "Dritte Tempel" wurde 1975 in Israel veröffentlicht, denn Ljuksemburg gelang die Ausreise. Dem Arzt und Schriftsteller David Sraer-Petrov dagegen wurde die Emigration verweigert. Und danach schikanierte der Staat ihn und seine Familie.
Davon handelt auch sein in den 1980er Jahren im Samizdat – also im Selbstverlag – verbreiteter Roman "Gerbert i Nelli".
Auch heute wird jüdische Geschichte verschwiegen
"Dann werden Jahre im 'otkaz', otkaz ist auf Russisch Absage, beschrieben." Im Roman wie im Leben mussten die sogenannten Otkazniki in dieser Situation verharren. Aufgrund des politischen Regimes sprachen sie von der ersehnten Ausreise auch als "Exodus" – und setzten ihre Lage so mit der Knechtschaft in Ägypten gleich.
Klavdia Smola interessiert sich nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen für die jüdische Kontrakultur. Angesichts der Lage im heutigen Russland begreift sie die Erinnerung daran auch als einen politischen Auftrag. "Es ist zwar nicht mehr die alte sowjetische Diktatur, aber das ist ein autoritärer Staat heute. Und vieles, was in der russischen Geschichte passiert ist, wird verschwiegen oder verschleiert. Auch die jüdische Geschichte."