Trauern und bleiben
Nach den Anschlägen in Paris hat der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu die französischen Juden aufgerufen, nach Israel auszuwandern. Doch viele wollen bleiben. Einige befürchten, dass ihre Loyalität zu Frankreich angezweifelt wird.
Die Beerdigung der vier Pariser Juden Yoav Hattab, Yohan Cohen, Philippe Braham und Francois-Michel Saada in Jerusalem wurde zu einem ungewöhnlichen Akt der Solidarität. Hunderte Bürger und die gesamte politische Führung Israels nahm daran teil. Anschließend sprachen alle männlichen Verwandten gemeinsam das Totengebet Kaddisch.
Dann zündeten die Verwandten vor dem Hintergrund einer überdimensionalen israelischen Fahne Fackeln zum Andenken an ihre Liebsten an. Die französische Umweltministerin Ségolène Royal verlieh ihnen das höchste Ehrenzeichen der Republik. Dennoch überlegen einige von ihnen, in Israel zu bleiben. Dazu hatte Israels Premierminister Benjamin Netanjahu vor 2.000 Juden in der Großen Synagoge in Paris aufgerufen.
"Juden heute haben den Verdienst, sich ihren jüdischen Brüdern in unserer historischen Heimat, im Land Israel, anzuschließen. Sie haben das Recht, im einzigen freien jüdischen Staat zu leben, im Staat Israel. Alle Juden, die nach Israel auswandern möchten, werden von uns mit offenen Armen aufgenommen und mit einem willigen Herzen empfangen. Sie werden nicht in ein fremdes Land kommen, sondern in das Land unserer Vorfahren. Mit Gottes Hilfe werden viele von ihnen kommen – in unser gemeinsames Haus. Das jüdische Volk lebt!"
Trauern ohne Netanjahu
Frankreichs Präsident Hollande versuchte, Netanjahu von seiner Teilnahme am Trauermarsch abzubringen. Er wollte die internationale Solidarität mit den französischen Opfern des Terrors nicht mit dem Nahostkonflikt in Verbindung bringen. Daher sollte auch Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas fernbleiben. Nachdem Netanjahu, der gerade Wahlkampf führt, von der Teilnahme seiner rechtsgerichteten Rivalen Liebermann und Bennet erfahren hatte, bestand er auf seiner Teilnahme. Daraufhin wurde auch Mahmoud Abbas eingeladen. Zwar verließ Präsident Hollande die Synagoge kurz vor Netanjahus Rede, aber immerhin nahmen beide an der Gedenkveranstaltung der jüdischen Gemeinde im koscheren Supermarkt teil.
Netanjahus Dolmetscher in der Synagoge war Meyer Habib, einer der einflussreichsten französischen Juden. Der frühere Präsident des Dachverbandes der jüdischen Gemeinden (CRIF) ist seit Juni 2013 Mitglied des Parlaments und dessen Auswärtigen Ausschusses. Habib kritisierte Frankreichs Terrorbekämpfung:
"Auch nach dem Anschlag in Toulouse kam der Präsident in die Synagoge. Das passiert nach jedem Terrorakt. Schöne Worte reichen aber nicht mehr; wir wollen Taten sehen und das habe ich dem französischen Premier Manuel Valls gesagt: Auch große Demonstrationen sind nicht genug! Man muss den Terror ausrotten, denn Juden haben Angst, in koscheren Geschäften einzukaufen oder mit einer Kippa auf die Straße zu gehen. Wir sind doch in Frankreich und nicht im Iran! Jetzt mordet man auch Journalisten. Mir wäre es jedoch lieber, wenn man heute nicht 'Ich bin Charlie' ausrufen würde, sondern 'ich bin jüdisch'."
Kritik an Netanjahus Aufruf
Manche in der Jüdischen Gemeinde kritisierten, dass Netanjahus Aufruf Juden in den Augen vieler Franzosen zu Israelis macht und ihre Loyalität zu Frankreich in Frage stellt. Parlamentarier Meyer Habib ist zuversichtlich, dass die Auswanderung nach Israel die größte jüdische Gemeinde in Europa kaum beeinträchtigen wird. Er selbst studierte in Israel, wo seine Mutter und drei Geschwister leben, und ist französischer und israelischer Staatsbürger.
"Wer auswandern will, dem soll Israel helfen, zum Beispiel durch die Anerkennung des Studiums, der Abschlussurkunden, was das israelische Parlament bald beschließen wird. Die allermeisten der 600.000 Juden werden jedoch hier bleiben. Sie verdienen hier ihren Lebensunterhalt und sprechen kein Hebräisch. Im letzten Jahr wanderten 7000 Juden nach Israel aus, was nur ein Prozent der Juden ausmacht. Die allermeisten werden bleiben, denn wir sind auch Franzosen; wir wurden hier geboren. Wenn Juden nicht mehr in Frankreich leben könnten, dann wäre das das Ende Frankreichs."
Zu Tränen berührte die Israelis Vallerie Braham, die Witwe von Phillip Braham, nicht nur weil sie fließend Hebräisch spricht. Ihr Mann kaufte für sie noch kurz vor dem Shabbat im koscheren Supermarkt ein, wo er erschossen wurde. Ihrem dreijährigen Sohn sagt sie, dass sein Vater bald zurückkommt, ihre achtjährige Tochter tröstet sie anders:
"Meiner größeren Tochter habe ich gesagt, dass er verletzt wurde. Was sollte ich ihr sagen, dass man mir denjenigen wegnahm, den ich am meisten in der Welt liebe? Dass man meine andere Hälfte wegnahm? Dass ich nicht weiß, wie meine Kinder ohne einen Vater aufwachsen werden?"
Die Familie Braham plante zuletzt, in ein, zwei Jahren nach Israel auszuwandern. Jetzt wird das schneller gehen, versprach die junge Mutter.