Miteinander, gegeneinander
Das Krakauer Viertel Kazimierz stand über 400 Jahre unter dem Einfluss der jüdischen Kultur. Seit der politischen Wende in Polen 1989 lebt das Judentum wieder auf. Doch in Teilen der katholischen Mehrheit gibt es noch immer Ressentiments.
Fronleichnamskirche im Krakauer Stadtteil Kazimierz. Pater Piotr Walczak beobachtet Menschen, die zu einer Sonntagsmesse eilen. Immer wieder fällt sein Blick auf eine Mauer, die die mächtige Basilika aus dem 14. Jahrhundert umzingelt. Die Kirche stand schon ungefähr 200 Jahre, bevor sich die ersten Juden in Kazimierz angesiedelt haben. Die Mauer beweist, dass das Zusammenleben im Viertel durch Konflikte geprägt war, erklärt der Gemeindepfarrer:
"Es stellte sich heraus, dass die Mauer nicht von den Katholiken, sondern von den Juden errichtet wurde, die die Fronleichnamsprozessionen nicht sehen wollten. Einer unserer Priester, der Krankenbesuche mit dem Allerheiligsten machte, beschwerte sich zur selben Zeit bei der jüdischen Gemeinde über den Bau einer neuen Synagoge."
Konflikte zwischen den Katholiken und den Juden wurden weniger, als die polnische Bevölkerung kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs auf ungefähr 1000 Personen schrumpfte. Unter der deutschen Besatzung änderte sich alles - die Kirche wurde sogar zum Zufluchtsort für zahlreiche Juden.
Piotr Walczak: "Mehrmals hörte ich von alten Mitbrüdern, dass sie im Kirchenkeller jüdische Mitbürger versteckten. Bis vor einem Jahr gab es noch eine Tür in der Mauer - das war der Fluchtweg vor Wehrmachtsoldaten. Jüdische Kinder wurden hier getauft, nur so konnten sie überleben."
Etwa 60.000 Juden lebten in Kazimierz vor dem Zweiten Weltkrieg. Die einstige Mehrheit ist zu einer Minderheit geworden und fällt heute im Stadtbild kaum auf. Einige Holocaustüberlebende treffen sich im Seniorenclub oder in einer der sieben Synagogen. Junge Juden suchen nach eigenen Wurzeln. Polens erste Rabbinerin, Tanya Segal, hilft ihnen dabei. Etwa 40 junge Menschen bilden die reformierte Gemeinde Beit Krakow und kommen zum gemeinsamen Shabbat-Gebet.
Bevor sie nach Krakau kam, lebte Tanya Segal in Russland und in Israel. In Polen fühlt sie sich sicher.
"Wir Juden fühlen uns hier frei. Shabbat und andere Feste werden in aller Öffentlichkeit gefeiert. Und was den Antisemitismus angeht - den gibt es überall. Als ich hierher kam, habe ich gar nichts davon gemerkt. Mittlerweile schon, zum Beispiel Marionetten, die einen Juden mit einer Münze darstellen, so drückt sich für mich der Antisemitismus aus."
In vielen Familien haben antisemitische Vorurteile überlebt
Solche und andere Souvenirs sind an vielen Stellen zu kaufen. Sie knüpfen an alte Vorurteile an, die in vielen polnischen Familien überlebt haben - Geschichten von Knoblauchjuden oder geldgierigen jüdischen Verkäufern. Josef, 75, kennt noch viele davon. Er ist in einem Ort in Zentralpolen aufgewachsen, wo überwiegend Landjuden wohnten.
"Vor meinen Augen habe ich immer noch diese Männer mit langen Bärten, Kippas oder Hüten, und sechs bis sieben Kindern in Erinnerung. Ein Miteinander zwischen uns Katholiken und den Juden gab es nicht wirklich. Jeder lebte für sich. Heute bin ich der Meinung, dass wir näher rücken müssen. Konflikte? Das darf es nicht geben."
Doch immer wieder entlädt sich jemands Wut - dann wird eine Macewa geschändet oder einfach "Juden raus" an die Wand geschmiert. Meist sind es rivalisierende Fußballfans, die den Gegner als Juden beschimpfen. Doch es blieb bislang bei der verbalen Gewalt. In Krakau werden die jüdischen Einrichtungen nicht beschützt, sagt Piotr Nawrocki von der Jüdischen Gemeinde Krakau, Mitglied im christlich-jüdischen Klub "Przymierze".
"Wir versuchen im Dialog zu bleiben, und ich denke, das klappt gut. In Krakau hat die Jüdische Gemeinde sehr gute Kontakte zum Erzbistum. Klar, dass es welche gibt, die Juden nicht mögen. Es gibt auch gefährliche Situationen, aber im Vergleich zu Frankreich, wo Juden angegriffen werden, ist es nicht gravierend. Bei uns gibt es selten körperliche Gewalt, sie hat mehr mit dem Internet, mit der Zeitung zu tun."
Małgorzata Zajda arbeitet im Seniorenklub von JCC, ihre Mutter überlebte die blutige Pazifikation der Region um Zamość. Die Judenpogrome der Nachkriegszeit und die Verfolgung in den 60ern waren für die 71-Jährige eine Lehre. Ihre wahre Identität gibt sie nicht preis.
"1968 malte jemand auf meine Haustür einen Davidstern, ansonsten gab es keine Vorfälle. Ich habe ein Ferienhaus in den Bergen. Dort hängen Heiligenbilder, zum Beispiel die Heilige Theresia. Einen Davidstern habe ich nicht. Warum soll ich mit dem Schicksal spielen?"
Im Alltag herrscht wenig Miteinander
Ein Grund, weshalb alte Ressentiments aufleben, könnte das Gebaren mancher Auslandsjuden sein, meint Adam Klimek von der Jüdischen Kulturgesellschaft TSKŻ:
"Kazimierz ist für viele Juden sehr attraktiv. Der Stadtteil ist seit dem Zweiten Weltkrieg unberührt. Viele, die hierher kommen, machen Geschäfte, kaufen sich Häuser, besonders die amerikanischen Juden. Aber ich denke, sie machen das zu schnell und das wird böse ändern. Deshalb spüre ich manchmal, dass jemand den Juden nicht wohl gesonnen ist."
Agata Kotula hat in Kazimierz eine Kunstgalerie. Dass ausländische Investoren ganze Straßen in noble Hotels verwandeln, gefällt ihr nicht. Gerne würde sie am wiederaufkommenden jüdischen Leben teilhaben, doch sie muss sich oft mit der Folklore beim Festival der Jüdischen Kultur begnügen.
"Im Jüdischen Gemeindezentrum und in den Synagogen ist eine starke ethnische Gruppe aktiv. Ab und zu sieht man einen traditionell gekleideten Juden in einem modernen Auto vorbeifahren. Diese Menschen sind aber ein geschlossener Kreis. Eine Interaktion mit uns gibt es nicht. Wir könnten doch als Freunde leben. Aber es gibt oft Probleme. Ehemalige Erben kommen, ganze Familien verlieren ihr Zuhause. Oft geht es dabei nur ums Geld und Gewinn."
Auch Janusz von der Kneipe "Grüner Kontrabass" spürt, wie wenig Miteinander im Alltag herrscht - abgesehen von der offiziellen Ebene - und ärgert sich, wenn in den westlichen Medien Polen als Antisemiten abgestempelt werden.
"Touristen aus Israel schauen selten bei uns vorbei – sie bewegen sich entlang festgelegter Routen, ich vermute, dass zahlreiche Mythen über den polnischen Antisemitismus dahinter stecken. Ich arbeite im Viertel seit 20 Jahren, habe aber davon nichts gemerkt."
Immer wieder lädt Pfarrer Piotr Walczak jüdische Touristen in die Fronleichnamskirche. Sein Traum wäre, einem der geretteten Kinder zu begegnen. Ein anderer Wunsch ist bereits erfüllt – der alte Mauerstreit ist beigelegt.
"Ich habe einen Weihnachtsgruß von der jüdischen Gemeinde bekommen, das war sehr nett. Es hieß darin: 'Man wünsche uns ein schönes Fest und möge es in einer freundlichen, herzlichen Atmosphäre verlaufen.' Ich bin sehr dankbar dafür."