Der letzte Rabbi von Buchara
Einst zog eine Gruppe freigelassener Juden aus Babylonischer Gefangenschaft in die damaligen Wirtschaftszentren Buchara und Samarkand. In den Jahrhunderten haben sie eine einzigartige Kultur entwickelt. Heute lebt in dem Gebiet nur noch eine kleine jüdische Gemeinschaft.
Ein Freitagabend, mitten in der Altstadt von Buchara. Über dem lehmfarbenen Gewirr aus verschachtelten Häusern und Basaren erheben sich schlanke Minarette. Alte Usbeken spielen Schach am zentralen Wasserbecken, dem Labi-Haus. Um die Ecke liegt ein besonderes Haus: Die alte Synagoge der Bucharajuden, heute die einzige in der Stadt. Etwa 20 Männer, junge wie alte, beten und wiegen dabei ihren Körper hin und her. Ein alter Rabbiner führt den Gottesdienst an, mit Gebeten und Gesängen. Aron Sijanov ist 75 Jahre alt und seit über vier Jahrzehnten Gemeindevorsteher in Buchara.
"Bucharajuden nennt man Sefaradim, wir gehören der Gruppe sefardischer Juden an. Sefaradim sind sehr gläubige Juden. Bucharajuden gibt es überall auf der Welt. In Jerusalem gibt es sogar ein eigenes Wohnviertel."
Der Legende nach kehrten die Buchara-Juden nach dem Ende der babylonischen Gefangenschaft nicht zurück nach Israel, sondern ließen sich als Händler der Seidenstraße nieder, auf dem Gebiet des heutigen Iran, Tadschikistan und Usbekistan. Hier, in Zentralasien waren sie von der übrigen jüdischen Welt nahezu abgeschnitten. Die Bucharajuden entwickelten eine eigene Kultur, erzählt der Philologe und Historiker Ruben Nasarjan:
"Sie lebten jahrhundertelang in Asien, sie verlernten Hebräisch und sprachen nur Farsi. Ihre Kleidung ähnelte der der Muslime, sie kochten ähnliche Gerichte, auch ihre Musik, Hochzeits- und Bestattungsbräuche sind den usbekischen ähnlich. In ihrem Lebensalltag wurden sie ziemlich islamisiert. Was die Bucharajuden in all den Jahren vor der völligen Assimilation bewahrte, war die Religion."
Unterdrückt von usbekischen Herrschern
Für das Recht, die eigene Religion zu praktizieren und Synagogen zu bauen, zahlten die Bucharajuden hohe Steuern. Manche Herrscher ließen die Juden in Frieden. Andere wiederum, vor allem die als fanatisch geltenden usbekischen Herrscher in der frühen Neuzeit, haben sie als "Ungläubige" gnadenlos unterdrückt, sagt Ruben Nasarjan.
"Bevor die Russen 1868 das Gebiet erobert hatten, lebten die hiesigen Juden wie Sklaven. Neben Muslimen durften die Juden zum Beispiel nicht wohnen – nur in ihren eigenen Wohnvierteln, die sie auch nicht verlassen durften. Sie durften keine Pferde reiten, sondern nur Esel. Ihre Häuser sollten einen Meter tiefer gebaut werden, als die der Muslime und auch die Tür sollte niedriger sein, damit sie sich immer verbeugen mussten. Sollte sich ein Jude neben einem Moslem waschen und seine Wassertropfen zufällig diesen treffen, drohte dem Juden der Tod – oder er musste an der Stelle selber zum Islam konvertieren. Es gab insgesamt 28 Regeln, die ihnen das Leben schwer machten und sie ständig erniedrigten."
Kein Wunder, dass die Bucharajuden die russischen Eroberer Usbekistans im Jahr 1868 wie Retter feierten. Vom Zaren im fernen Sankt Petersburg erhielten sie Bürgerrechte und auch schließlich auch ihren Namen "Bucharajuden". Das Wort wurde zum Sammelbegriff für alle mittelasiatischen Juden, da ihr geistiges Zentrum die Stadt Buchara war.
Die tüchtigen Bucharajuden lieferten nach Russland Rohbaumwolle wie kostbare Stoffe, Stickereien und Juwelen. Am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden um die alte Synagoge in Buchara viele neue, prachtvolle jüdische Häuser. Kurz vor der Oktoberrevolution gab es in Buchara 13 Synagogen. In Folge der Revolution der Bolschewiki verarmten zwar die wohlhabenden Juden von Buchara. Doch auch in der Zeit des antireligiösen Kampfes in der Sowjetunion hielten sie an ihrem Glauben fest. Ein gutes Beispiel dafür ist die Geschichte des alten Rabbiners Aron Sijanov:
"Mein Vater kämpfte im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen und kehrte zurück als Invalide mit zwei Krücken. Als Dank dafür, dass er immerhin lebend zurückkam, legte er ein Gelübde ab, dass sein Sohn ein Rabbi werden soll. Und er fand einen privaten jüdischen Lehrer in Buchara, was in der Nachkriegszeit nicht einfach war. Er bezahlte ihn dafür, dass er mich ausbildet."
Seit 1974 ist Aron Sijanov Gemeindevorsteher in der alten Synagoge. Und es könnte sein, dass der letzte Rabbiner von Buchara ist. Vor 100 Jahren lebten hier 25.000 Juden. Heute sind es nur noch etwa 50 Familien. Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat ein Exodus begonnen, unaufhaltsam, nach Israel und in die USA. Die Gründe sind fast immer dieselben – schwierige wirtschaftliche Verhältnisse im unabhängigen Usbekistan, vor allem aber der Wunsch, neben anderen Bucharajuden zu leben, erzählt der Rabbi.
"Sehen sie hier den Lebensmittelladen? Der gehörte einem Juden, der nach Amerika ausgewandert ist. Auch die Häuser hier gegenüber – alles ehemalige jüdische Häuser. Die Kinder wandern aus, die Eltern kommen nach. Auch die Familiengründung ist ein wichtiges Exilmotiv. Die Bucharajuden möchten am liebsten Ehepartner aus demselben Kreis. Unser größtes Problem ist aber: es gibt zu wenig Jüdinnen in Buchara. Die jungen Männer finden keine Frauen, viele heiraten Russinnen oder Tadschikinnen, auch eine Minderheit hier. Neulich habe ich einen Jungen beschnitten: der Vater ist Bucharajude, die Mutter Russin. Nach dem jüdischen Gesetz, da die Nationalität von der Mutter geerbt wird, hätte ich es eigentlich nicht tun dürfen. Aber der Vater ist ja immerhin Jude – so habe ich es gemacht…"
Der 22-jährige Nuri möchte keine solche Mischehe gründen. Dann lieber auswandern:
"Ich stamme aus einer religiösen Familie. Ich gehe, seit ich fünf bin, in die Synagoge. Ich versuche, alle Gebote zu befolgen und jeden Tag hierher zu kommen. Aber schon bald bin ich hier weg, wir fahren nach Israel. Es gibt schlichtweg kaum jüdische Mädchen! Und in Israel gibt’s viele. Ja, nur deswegen fahren wir weg…"
Verstreut auf der ganzen Welt
Heute leben etwa 94.000 Bucharajuden auf der ganzen Welt. Der Großteil von ihnen, etwa 60.000, wohnt in Israel, weitere 25.000 haben in den USA eine neue Heimat gefunden. Die größte europäische Gemeinde der Bucharajuden mit etwa 2000 Mitgliedern existiert in Wien, aber auch in Deutschland wurde vor kurzem eine erste Synagoge geweiht, in Hannover. Egal, wo sie sich niederlassen, die Bucharajuden wollen immer an ihren Traditionen und Familienwerten festhalten: die Gehorsamkeit der Frauen gegenüber den Männern und die gegenseitige Fürsorge in den großen Familien. Diese Familientraditionen werden wohl auch der Grund sein, wenn auch der Rabbiner Aron Sijanov Buchara eines Tages verlassen wird:
"Ich habe sieben Kinder. Sechs von ihnen sind ausgewandert. Nur einer, der Jüngste ist hier mit mir geblieben. Wenn er mit seiner Familie irgendwann auch weg will, was bleibt mir übrig? Ich bin ja alt, mit wem soll ich hier bleiben, wer wird mich pflegen? Aber ehrlich gesagt, ich will gar nicht weg. Ich will mein Volk hier nicht verlassen, alle Riten, alle Gebete, alles mache ich hier. Ich habe einst fünf Schüler vorbereitet, dachte, sie werden meine Nachfolger sein, aber auch die sind mittlerweile weg."
Wer weiß, vielleicht gibt es bald gar keine Juden mehr in Buchara? Daran möchte der Rabbi gar nicht denken. Lieber packt er schnell seine Gebetsbücher weg. Der Gottesdienst in der Synagoge ist mittlerweile zu Ende, bevor der erste Stern am Himmel steht, möchte er zu Hause sein. Dort, am gedeckten Sabbat-Tisch warten sein Sohn, die Schwiegertochter und zahlreiche Enkelkinder auf ihn – auf Aron Sijanov, den möglicherweise letzten Rabbi von Buchara.