Wiederentdeckung einer vergangenen Kultur
Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in Polen über drei Millionen Juden. Der Holocaust machte dem ein Ende und es gibt nur noch wenige Spuren des jüdischen Lebens. Doch immer mehr Polen wollen wenigstens diese bewahren.
Der Klang mediterraner Exotik erfüllt die Nożyk-Synagoge in Warschau. Im Ursprungsland des jiddischen Klezmer kann man nun auch sephardische Musik hören - Ausdruck eines wachsenden Interesses an jüdischen Traditionen.
"Mich begeistert der Rhythmus, der sich stets in jüdischer Musik finden lässt. Bei diesem Konzert ist er auch vom Jazz beeinflusst. In jedem Fall fasziniert mich die jüdische Musik schon seit langem."
Wie diese junge Besucherin zeigt, sind unter den Gästen nicht nur Juden. Konzertveranstalter Miron Zajfert hat die Konzertreihe "Jüdische Spielereien" ganz bewusst offen konzipiert.
"Heute sind viele Warschauer Bürger gekommen, die sich mit jüdischer Kultur beschäftigen wollen. Eine Kultur, die in Polen seit Jahrhunderten lebendig ist, eine Kultur, die immer inspirierend war."
Auch Israelis suchen diese Veranstaltungen auf. Es werden immer mehr, meint Miron Zajfert. Doch meist führt sie nicht der Glaube nach Warschau. Die dortige jüdische Gemeinde, eine von sieben in ganz Polen, hat 650 Mitglieder und wächst nur langsam.
"Die Nachfahren derer, die aus Polen ausgewandert sind oder sich irgendwie vor dem Holocaust retten konnten, kehren zurück und versuchen, ihre familiäre Herkunft besser zu verstehen, und zwar dort, wo ihre Vorfahren, ja ganze Generationen von ihnen gelebt haben."
Niemand spürt das mehr als Przemysław Szpilman. Er leitet den jüdischen Friedhof in Warschau.
"Täglich bekomme ich Anfragen von Nachkommen, die wissen wollen, ob hier ihre Großeltern oder Urgroßeltern begraben liegen."
Den Ahnen auf der Spur
Auf dem 1806 gebauten Friedhof sieht man, dass Warschau vor dem Krieg ein wichtiges Zentrum jüdischen Kultur war: Hier liegt Ludwik Zamenhof begraben, der Erfinder der Kunstsprache Esperanto, aber auch jüdische Autoren, Musiker und Wissenschaftler. Es ist einer der größten Friedhöfe Europas - doch vor allem: Er ist unüberschaubar.
"Die Inventurlisten sind 1943 zerstört worden. Und darum habe ich vor elf Jahren angefangen, den Friedhof neu zu katalogisieren. Ich will denen helfen, die nach Gräbern ihrer Vorfahren suchen."
Bis jetzt hat Szpilman schon Daten zu 90.000 Gräbern digitalisiert. Doch es fehlen weiterhin Tausende. Wer seinen Ahnen auf die Spur kommt, revanchiert sich mit Spenden. Das macht den Friedhof mittlerweile so sehenswert, meint Szpilman:
"Viele Grabsteine sind renoviert und erstrahlen in neuem Glanz. Und das alles dank vieler Vereine und Einzelpersonen in Amerika und Israel, denen die Gräber von Angehörigen oder Rabbinern am Herzen liegen."
Hagay Hacohen ist einer der Israelis, die es nach Warschau verschlagen hat. Er hat neben seiner israelischen Staatsangehörigkeit auch einen polnischen Pass. Denn seine Vorfahren stammen fast alle aus Polen. Viele wurden von den Nazis ermordet. Wer überlebte, bekämpfte sie.
"Meine Großmutter Jozefa Glassberg schaffte es sogar als Soldatin nach Berlin. Sie beschrieb, dass die deutschen Frauen so ausgehungert waren, dass sie den hereinziehenden Truppen die Babys entgegenhielten, um an Brot zu kommen. Meine Oma gab ihnen etwas. Aber eine polnische Kameradin fragte, 'wie kannst Du denen Brot geben?'. Und sie antwortete: 'die deutschen Mütter haben doch die Verbrechen nicht begangen.'"
Nicht nur in der Familie, auch beruflich ist das Thema Holocaust für Hagay Hacohen stets präsent. Er arbeitet für den hebräisch-sprachige Auslandsdienst des Polnischen Rundfunks. Als Journalist merkt er jedoch, dass die schreckliche Vergangenheit auch bei seinen Landsleuten oft in den Hintergrund tritt:
"Seitdem Polen ein stabileres, offeneres Land ist, interessieren sich mehr Israelis dafür. Aber sie kommen nicht wegen des Holocausts oder wegen des jüdisches Erbes."
Eher aus beruflichen Gründen, meint Hacohen. Und dann entdecken sie ein Kulturleben, das sich prächtig entwickelt: das Jüdische Filmfestival, das Jüdische Kulturfest und das kürzlich eröffnete Jewish Community Center, ein Vereinshaus für Philosemiten, sind nur einige Beispiele. Doch am meisten beeindrucken Hacohen die polnischen Wunderjuden, wie er sie nennt.
"Das sind Leute, die in gemischten Familien aufwuchsen, oft ohne jüdisches Wissen. Und sie strengen sich enorm an, um jüdisch zu werden. Sie studieren Hebräisch oder konvertieren sogar. Diese Wunderjuden sind wichtig, denn sie bringen ihrerseits die erste Generation von Polen hervor, die von Haus aus jüdisch sind."
Eine der bekanntesten Persönlichkeiten aus dieser Gruppe ist die Modeschöpferin Antonina Samecka. Seit zweieinhalb Jahren betreibt sie eine Boutique im Zentrum Warschaus - unter dem Namen Risk, Risiko. Samecka verarbeitet ihre Identität in Schnitten und Mustern: Streetwear und Klassisches mit religiösen Symbolen und griffigen Schlagworten:
"Da haben wir etwa die englische Aufschrift 'You had me at Shalom' - eine Art Kommentar auf der Kleidung. Wenn jemand damit herumläuft, weiß man sofort, das ist eine Person mit jüdischer Herkunft. Und gleich gibt es eine Verbindung, etwas, das zusammenhält."
Streetwear für mit jüdischen Symbolen
Samecka hat Kunden nicht nur in Polen, auch in Deutschland, Israel und den USA - alles via Internet. Sie findet den Antisemitismus in Polen nicht schlimmer als anderswo. Angst hat sie nicht. Doch ihre Kundschaft ist vorsichtig.
"Die Symbole gestalte ich so: Wenn jemand weiß, worum es geht, dann erkennt er die Motive sofort. Wer aber nichts davon kennt, wird auch nicht darauf aufmerksam. Zum Beispiel haben wir da in der neuen Kollektion ein Davidsternfragment, das nur schwer zu erkennen ist."
Darum hat Samecka auch viele nichtjüdische Kunden. Doch nicht immer gelingt es Juden ihrer Geschichte im alltäglichen Leben und bei der Arbeit zu entkommen. Dorota Liliental ist als Schauspielerin nur auf eine Rolle festgelegt:
"Ich verkörpere vor allem Jüdinnen in der Zeit des Holocaust. Zum Beispiel spiele ich eine Szene in Roman Polańskis 'Der Pianist'."
Lilientals Großmutter hatte den Holocaust überlebt - fast als einzige in der ganzen Familie. Doch nie berichtete sie von ihren Erlebnissen. Als sie dazu bereit war, starb sie plötzlich an einem Schlaganfall.
"Ich denke durch die Filme kann ich die Emotionen dieser unerzählten Geschichte nachempfinden. Fast so, als hätte meine Oma mich dazu gebracht."
Zwar sei es gut, dass es diese Filme gebe, meint die 49-Jährige. Doch die Blickrichtung werde leider kaum verändert.
"Ich wünschte mir, dass man polnische Juden nicht immer mit dem Ghetto assoziiert. Es sollte auch an die Jahre erinnert werden, wo es eine reiche jiddische Kultur gab, mit eigenen Zeitungen, Theatern und Poesie. Ich fände es schön, wenn die Menschen mehr über diese Zeit vor dem Krieg wüssten."
Zumindest das Lebensgefühl von damals kann man nachempfinden: Auf Konzerten, bei Lesungen und Workshops. Doch die Juden Polens leben nicht mehr nur in der Vergangenheit. Das Festival Neuer Jüdischer Musik will aktuellen Strömungen eine Bühne bieten:
"Wir präsentieren das ganze Spektrum moderner jüdischer Musik; zuletzt zum Beispiel mit einer israelisch-deutsch-bulgarischen Musikgruppe, die sich speziell für unser Festival gegründet hat."
Im Mai feiert das Festival seinen fünften Geburtstag. Dieses und andere Events können kaum das verlorene jüdische Erbe ersetzen, aber sie knüpfen an eine lange Tradition an. Und es gibt Menschen in Polen, die dieses Erbe immer selbstbewusster fortführen.