Judith Butler: "Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus"
Campus Verlag, Frankfurt - New York 2013
277 Seiten, 28,90 Euro
Warum der Zionismus nicht zum Judentum gehört
Judith Butlers These ist radikal: Nicht die nationale Existenz, ein jüdischer Staat, sondern das Übernationale sei Aufgabe des Judentums. Daraus entstand die jüdische Ethik der Diaspora, eine friedliche Kohabitation mit anderen Völkern. Der Zionismus hingegen ignoriere diese Schule der Toleranz. Mit faszinierender philosophischer Eloquenz führt Butler diesen Gedankengang aus - doch auf die Juden in Deutschland passt ihre These nicht.
Seit der jüdischen Aufklärung im 18. und 19. Jahrhundert, der Haskala, existiert die Debatte über die Frage, was jüdische Existenz sei. Judith Butler stellt sich ihr heute angesichts des Staates Israels. Sie artikuliert eine fundamentale Kritik am Zionismus und wirbt für die jüdische Ethik des Exils und der Diaspora.
Diese Ethik ist gleichzeitig ihr persönliches Bekenntnis zum Judentum, das eng an die Persönlichkeiten Hannah Arendts, Walter Benjamins und Theodor W. Adornos geknüpft ist. Das eigene jüdische Selbstverständnis schickt die amerikanische Philosophin einleitend voraus – auch, um sich gegen Anfeindungen abzusichern, wie jener, dass sie antisemitisch argumentiere:
"Es ist mir auch wichtig, dass ich zu diesen bestimmten Werten über meinen eigenen Hintergrund gelange, insbesondere die Prägungen in den jüdischen Gemeinschaften und über das Engagement in Bildungsprogrammen meiner Synagoge. Ich denke, manche Werte, die sich in meiner Jugend herausgebildet haben, finden sich heute in meinem ethischen und politischen Widerstand zum Zionismus wieder“.
Butler trennt das Judentum vom Zionismus. Dieser – so ihr Argument – gehöre nicht zu den Prinzipien des Judentums. Denn die historische, jüdische Wirklichkeit war seit Jahrtausenden übernational: die Juden lebten mit anderen Völkern in Kohabitation – ein Schlüsselbegriff Butlers.
Nicht die nationale Existenz ist Aufgabe des Judentums
Daraus entstand die spezifische jüdische Ethik der Diaspora. Und diese Ethik halte das Moment der Versöhnung, im Sinne Walter Benjamins, aufrecht. Nicht die nationale Existenz, sondern das Übernationale, das sei die Aufgabe des Judentums. Darin unterscheide es sich von den anderen Völkern. Als Beleg zitiert sie den italienischen Schriftsteller und Schoah-Überlebenden Primo Levi:
"Ich würde sagen, das Beste an der jüdischen Kultur ist an die Zerstreuung, an das Polyzentrische gebunden."
Hinter diese zivilisatorische Leistung falle der Zionismus zurück. Zwar war die Geschichte der Diaspora – so Levi – eine Geschichte der Verfolgung, aber vor allem eine …
"…Geschichte des ethnischen Austausches und der Beziehungen, also eine Schule der Toleranz".
Der Zionismus ignoriere die Schule der Toleranz, fundiert er ja einen jüdischen Nationalismus, der auf einem nationalistischen und religions-ideologischen Narrativ baut, dem die Juden in der Geschichte selbst zum Opfer gefallen sind.
Insofern lässt Butler die politische und historische Notwendigkeit des Zionismus kaum gelten; selbst die Schoah, die Israel als Rechtfertigung seiner Politik heranzieht, sei als psychologisches Phänomen nachzuvollziehen. Das Trauma der Schoah legitimiere jedoch keinesfalls politisches Handeln, sondern allenfalls, dass …
"… jeder Mensch ungeachtet seiner ethnischen Herkunft, Zugehörigkeit oder Religion Anspruch auf Linderung hat."
Klar formuliert Butler ihre Vorbehalte gegen den Zionismus.
"Ich will zeigen, inwiefern das Jüdischsein vom Zionismus getrennt war, ist und bleiben muss."
Dieses ist ein politisches Postulat, das ihre Philosophie brisant und zum Stein des Anstoßes macht. Sie muss sich der jüdischen Öffentlichkeit stellen, wird selbst massiv angegriffen, da ihre Kritik fundamental ist - und eben nicht nur die Politik israelischer Regierungen ins Visier nimmt.
Philosophische Eloquenz
Doch Judith Butler verteidigt ihre Position mit philosophischer Eloquenz: mit einer Hymne auf die deutsch-jüdische Philosophie des 20. Jahrhunderts.
Und so liest sich die Studie auch als eine Abhandlung der säkularen modernen jüdischen Philosophie, unter anderem zu Arendt, Benjamin, Adorno. Sie identifiziert sich – und das wird sehr deutlich – mit dem progressiven Judentum der Diaspora, deren Persönlichkeiten als prononcierte Kritiker der Staatsgewalt, des Nationalismus und Chauvinismus auftraten – selbst historisch geprägt als Unterlegene.
Die Rolle zu wechseln, das erkämpft der Zionismus. Von Unterlegenen zu Überlegenen zu werden, nicht Fremde in der Fremde zu sein, sondern Subjekte eigener Geschichte. Doch diesen Auftrag habe Israel nicht erfüllt, weil es die Prinzipien des Judentums verletzt habe und den Zionismus illegitim werden ließ. Indem es den europäischen Nationalismus übernahm, verschärfte es die Gewalt im fruchtbaren Halbmond, verübte als regionaler Herrscher und Besatzer Unrecht, statt beides – Gewalt und Unrecht – zu beenden.
Weshalb Judith Butler dem palästinensischen Kulturtheoretiker Edward Said zustimmt, …
"… dass es einen jüdischen Widerstand gegen Israel geben kann, dass das jüdische Volk einen anderen historischen Weg einschlagen kann als Israel."
Der andere historische Weg sei im Messianischen zu finden: Gerade das Judentum der Diaspora verkörpere das Gewaltfreie, das Übernationale und damit die biblische Aufforderung, "lihiot or la goyim", anderen Völkern ein Licht zu sein.
Anhaltende Spannung zwischen Anerkennung und Abwehr
Der Zionismus sei demgegenüber der falsche Weg, der zwar nach Israel führe, aber die Idee der prinzipiellen Befreiung und überhaupt die Existenz des Exils aufgebe. Damit knüpft Butler an die Denkfigur des Zionisten Gerschom Scholems an, der bereits 1918 schrieb:
"Der nationale Begriff des Judentums führt nach Palästina, der jüdische nach Zion."
Im Zionismus werde das Judentum zwar politisch souverän verzichte jedoch – religiös oder philosophisch gesehen - auf Erlösung.
Bei aller Sympathie für diese Ethik der Diaspora: Anders als in den USA wirkt sie in Deutschland nicht originell, sondern problematisch. Hierzulande treffen Butlers Thesen auf die anhaltende Spannung zwischen der Anerkennung und Abwehr von historischer Schuld am millionenfachen Mord an den europäischen Juden. All zu leicht und leider all zu oft werden sie vom antisemitischen Ressentiment vereinnahmt, das sich hinter einer antizionistischen Fassade versteckt.
Die Philosophie Judith Butlers stößt somit an ihre politischen Grenzen – in Deutschland auch an ihre ethischen. Ihr Idealismus, ihre intellektuelle Schärfe übergeht die historische Wirklichkeit und: die politische Realität.