Judith Brandner: Japan. Inselreich in Bewegung
224 Seiten, Residenz Verlag, 22 Euro.
Trotziger Optimismus in Katastrophenzeiten
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Japan hat schon viele Katastrophen erlebt. Ob der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki oder das Fukushima-Unglück vor einigen Jahren - die Autorin Judith Brandner beschreibt, wie die japanische Gesellschaft mit solchen Erschütterungen umgeht.
Christian Rabhansl: Kaum ein Inselimperium hat solche Schocks erlebt, ist so erschüttert worden wie Japan. Mehr als einhundertmal bebt die Erde unter Japan jeden Monat so stark, dass es deutlich zu spüren ist. Vor fast acht Jahren hat ein Beben zu einem Tsunami und dann zur Nuklearkatastrophe von Fukushima geführt. Dieses ständige Beben, das kennzeichnet Japan, habe ich den Eindruck, wenn ich das aktuelle Buch von Judith Brandner lese. Sie ist seit mehr als 30 Jahren immer wieder in Japan, auch, um von dort zu berichten. Ihr Buch trägt den Titel "Japan: Inselreich in Bewegung".
Inselreich in Bewegung, das scheint auf diese im Kern erschütterte Gesellschaft anzuspielen. Sie beschreiben in dem Buch auch ganz andere Erschütterungen, aber bleiben wir erst mal bei diesem Erdbeben, zum Beispiel das in Kobe 1995, dann Fukushima eben 2011. Wie haben Sie das erlebt?
Brandner: Also, ich erlebe fast bei jedem Aufenthalt ein Erdbeben, größer oder kleiner. Kobe war das erste wirklich ganz große, als ich dort war in Kyoto, 50 Kilometer entfernt von Kobe, und das hat mich aus dem Schlaf gerissen um, ich glaube, es war dreiviertel sechs Uhr in der Früh. Es war wirklich schockierend. Es ist damals die ganze Infrastruktur zusammengebrochen, es gab eine Autobahnbrücke, die ist zusammengebrochen, und der ganze Verkehr war lahmgelegt für Tage. Das Land stand unter Schock, weil das Land doch sehr technikgläubig ist, und sie haben das nicht für möglich gehalten, und es hat dann wahnsinnig lange gedauert, bis überhaupt Hilfskräfte nach Kobe vorgedrungen sind. Es war auch damals noch die Bürokratie sehr mühsam. Es gab ein Schweizer Team mit Rettungshunden, die, ich weiß nicht, drei Tage in Quarantäne am Flughafen sitzen mussten, bis man sie vorgelassen hat zu den Leuten, die eigentlich Hilfe gebraucht haben.
Bürokratie lähmte Hilfe
Rabhansl: Auch ausländische Ärzte durften erst nicht helfen, weil sie keine japanische Zulassung hatten, habe ich bei Ihnen gelesen, also keine ärztliche Zulassung. Wenn Sie das dann mit Fukushima 2011 vergleichen, die Folgen sind natürlich noch viel katastrophaler durch dieses Atomkraftwerk. Der Umgang mit dieser Erschütterung aber, habe ich beim Lesen den Eindruck, ja fast trotzig unaufgeregt – kann ich das so sagen?
Brandner: Trotzig unaufgeregt, ich glaube, man versucht, es eigentlich irgendwie zu verleugnen. Speziell im heurigen Jahr, wo die Olympischen Spiele sind, versucht man so zu tun, als wäre eigentlich alles in Ordnung und darüber hinwegzutäuschen, dass eigentlich nach wie vor gekühlt werden muss. Also, es fallen ja nach wie vor Tonnen und Tonnen an verseuchtem Kühlwasser an, weil ins Reaktorinnere ja immer noch kein Mensch vordringen kann. Selbst Roboter sind schon gescheitert vorzudringen. Ja, ob das eine Trotzhaltung ist, ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist auch wieder so, man möchte nicht, dass das Land dasteht als das Land der Megakatastrophe sozusagen, sondern man will sich im besten Licht präsentieren.
Verbleib der Fukushima 50 unklar
Rabhansl: Das zeigt sich aber auch ganz individuell, wenn wir wirklich in die Zeit damals direkt nach der Katastrophe zurückgehen, da gibt es diese Fukushima 50, das sind so diese Arbeiter, die versucht haben zu retten, was eigentlich nicht mehr zu retten war und die eigentlich mit ihrem Einsatz ihr eigenes Todesurteil unterschrieben haben, die das trotzdem stoisch gemacht haben. Wussten die, dass das ihr Todesurteil ist?
Brandner: Ich denke schon, dass die das gewusst haben. Die Arbeiter sind sich alle der enormen Gefahren bewusst. Sie haben ja auch einen Strahlenpass, wo eingetragen wird, welcher Belastung sie ausgesetzt sind. Die haben das sicher gewusst, und die haben das für das Land gemacht. Also, diese Art der Aufopferung, wenn man das so sagen kann, die gibt es in Japan ganz sicherlich. Das Tragische ist, dass man ja über den Verbleib dieser Fukushima 50 bis heute nicht wirklich etwas weiß.
Rückkehr ins Katastrophengebiet
Rabhansl: Sie schildern einerseits den Protest gegen den Umgang des Staates mit dieser Katastrophe, Sie beschreiben aber auch ganz viele Familien, die eigentlich genau dieselbe Haltung an den Tag legen. Also, keine fünf Jahre nach dem Unglück zieht eine Pionierfamilie mit kleinen Kindern, 10 und 13 Jahre alt, direkt da wieder hin und sagt: "Kein Problem, hier ist es sicher". Sie schreiben von einer Frau, die Sie getroffen haben, die nach dem Unglück doch mit ihrer Tochter wegwollte, in ihre Heimatpräfektur in den Norden ziehen und ihr Mann dann ganz wütend wurde, wie kannst du hier wegziehen, hier ist doch alles in Ordnung. Viele, die wegmussten, sind da gegen ihren Willen weggebracht worden.
Was ist das für eine Haltung, dieses, was ich so als trotzig unaufgeregt bezeichnet habe? Haben Sie das verstanden im Laufe der Jahre?
Brandner: Ja, ich verstehe es schon. Also, die eine Familie, die sogenannte Pionierfamilie, die eine der ersten war, die in eine freigegebene Zone zurückgekehrt ist, die stehen in enger Verbindung, nämlich beruflich, mit dem Kraftwerk. Also, die mussten wohl zurück. Die konnten gar nicht anders, sonst hätten sie ihren Arbeitsplatz verloren, denke ich mal. Was die andere Frau mit dem kleinen Kind betrifft, das ist ein Phänomen, dem ich immer wieder begegnet bin und auch noch begegne, dass die Männer in den Familien einfach sehr obrigkeitsgläubig sind und den Behörden glauben, die sagen, hier ist es sicher, hier könnt ihr wohnen, es ist nicht so schlimm, und die Frauen mit Kindern einfach sehr skeptisch sind und sagen, ich will lieber auf 100 Prozent sichergehen und hier wegziehen.
Es ist auch wahnsinnig schwierig, wenn man als Laie versucht, sich mit Radioaktivität und den Auswirkungen in einer langfristigen niederen Strahlenbelastung zum Beispiel zu beschäftigen. Es gibt sehr viele widersprüchliche Meinungen, und es ist sehr, sehr schwierig, sich als Laie da wirklich ein objektives Bild zu machen.
Rabhansl: Fukushima, diese Katastrophe ist eine Marke, ein Wendepunkt, der im Zentrum Ihres Buches steht. Eine andere Marke sind die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945. Da versuchen Sie auch die Frage zu klären, warum ausgerechnet dieses Land, das schon so leiden musste unter den Atombomben, so beharrlich an der Atomkraft hängt. Haben Sie eine Antwort gefunden?
Brandner: Ja, die Antwort, die ich gefunden habe, ist, dass man der amerikanischen Propaganda gefolgt ist unmittelbar nach den Atombombenabwürfen in den 50er-Jahren und man unterschieden hat zwischen dem guten Atom, sprich der sogenannten friedlichen Nutzung, und dem bösen Atom, den Atombomben. Also es ist so, als hätte man sich gedacht, na ja, damit kann man sozusagen das böse Atom besiegen. Das ist ein wichtiger Grund, glaube ich, und das andere ist, man darf einfach nicht vergessen, dass die Amerikaner während der ganzen Zeit der Besatzung ein Tabu verhängt haben über die Atombomben. Es durfte über die Atombomben nicht gesprochen werden. Es durften keine Bücher darüber veröffentlicht werden. Das heißt, die Bevölkerung, die haben versucht, aus den Trümmern wieder aufzubauen und zu überleben unmittelbar nach 1945. Wie man dann wieder drüber reden durfte, das waren dann schon die 50er-Jahre. Also das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Grund, diese Zensur, die es da gegeben hat, die amerikanische.
Ereignisse, die Japan verändert haben
Rabhansl: Die Atombomben sind also ein wichtiger Punkt in Ihrem Buch. Fukushima bildet schon so – ich habe das so empfunden – das Herzstück quasi des Buches. Gleichzeitig versammeln Sie noch viele andere Themen: die dramatische Überalterung der Gesellschaft, die Friedensbewegung haben Sie gerade schon angesprochen, auch die Frauenrechte, dann porträtieren Sie noch eine deutsch-österreichische Einwandererfamilie.
Ich habe so versucht, ein bisschen zu erkennen, was so das drüberliegende Thema ist und habe gedacht, na gut, es geht eigentlich immer um gesellschaftliche Erschütterungen und wie die japanische Gesellschaft damit umgeht. Können Sie mir erklären, warum Sie diese Themenvielfalt zusammengepackt haben? Was ist so Ihr Leitgedanke gewesen?
Brandner: Also, mein roter Faden war schon, wie Sie sagen, diese einschneidenden Ereignisse, die Japan meiner Meinung nach geprägt und verändert haben, eben im 19. Jahrhundert die Öffnung nach dieser fast 250 Jahre andauernden Abschließung gegenüber der Außenwelt, im 20. Jahrhundert der Zweite Weltkrieg und die Atombomben, im 21. Jahrhundert dann Fukushima und diese schwelende Katastrophe und die Folgen, die für mich auch so ein Herzstück ist, weil ich seither jedes Jahr einmal dort war und die Gegend jedes Jahr bereist habe und einfach erschüttert bin von den Folgen, die man immer noch sieht. Also, das war so mein Bogen, den ich versucht habe zu spannen.
Rabhansl: Ganz am Ende enden Sie dann doch auch quasi in der Gegenwart, fast schon in der Zukunft. Sie haben es vorhin schon gesagt, dass sich Japan auf die Olympischen Sommerspiele 2020 vorbereitet. Da beschreiben Sie das J-Village, da wird wieder trainiert, wo noch vor wenigen Jahren der Katastrophenstab nach Fukushima gearbeitet hat. Online, ich habe mir das mal angeguckt, wirbt Japan mit dieser Stadt für das wahre Fukushima. Von dort soll auch das olympische Feuer starten. Das wirkt von außen so ein bisschen überraschend, aber nach all dem, was Sie jetzt gesagt haben, ist das eigentlich die einzige Art, wie Japan mit dieser Katastrophe umgehen kann, oder? So lange Normalität behaupten, bis sie wieder da ist?
Brandner: Ja, genau. Das liegt ungefähr 20 Kilometer also vom Kraftwerk entfernt, und während der Katastrophe haben dort auch sehr viele Arbeiter gewohnt, Kraftwerksarbeiter. Jetzt ist es so wirklich clean und herausgeputzt, und ein neues Stadion ist gebaut worden. Das soll meiner Meinung nach vorspiegeln, hey, da ist ja alles in Ordnung, da gibt es keine Probleme mehr. Japan hatte ja schon einmal Olympische Spiele in den 60er-Jahren, und das hat so einen wahnsinnigen Boom ausgelöst, auch einen ökonomischen Boom. Japan war da weltpräsent, und ich glaube, an diese Geschichte will man auch ein bisschen anknüpfen.
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