Judith Hermann: "Daheim"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021
190 Seiten, 21 Euro
Der eigentümliche Zustand des Dazwischen
05:26 Minuten
Melancholie, Versenkung und Freiheitsrausch: Judith Hermann erzählt in ihrem betörenden Roman "Daheim" von einer Frau, die nach dem Auszug der Tochter und der Trennung von ihrem Mann ein neues Leben beginnt.
Was ist das Alleinsein für ein Zustand? Hört etwas auf oder hat vielleicht längst etwas Neues begonnen? Die 47-jährige namenlose Ich-Erzählerin in Judith Hermanns betörendem Roman "Daheim" befindet sich nach dem Auszug ihrer erwachsenen Tochter und der Trennung von ihrem Mann in einem Verpuppungsstadium, von dem nicht ganz klar ist, was daraus werden wird.
Diese Windstille des Lebens, die die Frau in mittleren Jahren in einem kärglich eingerichteten Haus an der ostfriesischen Nordsee verbringt, scheint eine Replik auf eine Phase ihrer Jugend zu sein. Damals kam sie einen heißen Sommer lang in einer gesichtslosen Großstadt unter, jobbte in einer Zigarettenfabrik und wurde eines Abends an einer Tankstelle von einem älteren Herrn in Schlangenlederschuhen angesprochen, der nach einer Assistentin suchte. Ein Zauberer.
Zum Schein zersägt
Als sie ihn einige Tage später besuchte, ließ er sie im Beisein seiner Ehefrau in eine Holzkiste klettern und zeigte ihr, wie er sie zum Schein zersägen würde. Sie solle gemeinsam mit dem Paar auf einem Kreuzfahrtschiff nach Singapur reisen und ihm bei den Kunststücken zur Seite stehen, lautete das Angebot.
Die Episode von der zersägten Jungfrau antizipiert nicht nur die spezielle Stimmung der Hauptfigur; sie hat auch eine formale Funktion und umkränzt den Hauptteil von "Daheim". Ganz am Ende wird sie mit markanten Akzentverschiebungen noch einmal aufgegriffen, wie die Variation eines Themas.
Das Bezwingende an Judith Hermanns schmalem Roman ist die Atmosphäre: Auf hypnotische Weise weiß sie den Zustand ihrer Heldin einzufangen – eine Mischung aus Melancholie, Versenkung und Freiheitsrausch.
In knappen, klar strukturierten Sätzen mit sparsamen bildhaften Vergleichen, die eine spröde Schönheit entfalten, schildert ihre Hauptfigur das, was ihr an der windumtosten Küste widerfährt. Vor allem die Entfernung zu ihrer Tochter Ann, die irgendwo per Schiff unterwegs ist, nagt an ihr. Es fehlt das, was ihren Alltag lange kalibriert hat und sie an ihren Ex-Mann Otis band, einen versponnenen Sammler.
Hundertschaften quiekende Schweine
Prägnant ist auch das Figurenensemble, denn die Protagonistin nimmt behutsam Verbindungen zu anderen Menschen auf. Da gibt es ihren selbstbezogenen älteren Bruder, der eine Kneipe betreibt und besessen ist von einer depravierten jungen Kellnerin, die ausgerechnet den Namen der Siegesgöttin Nike trägt und einem David-Lynch-Film entsprungen zu sein scheint. Dann die Nachbarin Mimi, eine Malerin, die aus der Gegend stammt und sie mit rauer Herzlichkeit in alles einbindet. Schließlich deren Bruder Arild, einen Bauern mit Schweinezucht, mit dem sich eine Liebschaft entspinnt, und dessen Eltern Onno und Amke.
Die Landschaft mit ihren Sielen und den Gezeiten sickert ebenso in den Roman ein wie das sich bedrohlich verändernde Wetter und die Eigenheiten des wortkargen Menschenschlags. Manche Szenen werden emblematisch: die Hundertschaften quiekender Schweine, die tickenden Uhren, die Marderfalle oder die auf Stöckelschuhen über den Deich stolzierende Nike. Aus der Kiste des Zauberers wird eine kleine Motivkette, die metaphorische Qualitäten gewinnt. Mühelos fängt Judith Hermann etwas von unserer Zeit ein: den eigentümlichen Zustand des Dazwischen.