Hören Sie auch das Interview mit Judith Hermann in der Lesart ab 10.07 Uhr.
Von Gefühlen zwischen Tür und Angel
Judith Hermanns Geschichten in "Lettipark" sind nicht gut erzählt, meint unsere Rezensentin. Aber sie handeln von Gefühlen, die man normalerweise kaum beachtet. Und entwickeln dabei einen Zauber, enden in Pointen von kleinen Nachdenklichkeiten.
Große Erkenntnisse gewinnt sie nicht, die Frau, die sich auf Rat ihrer Freundin bei deren Psychiater auf die Couch legt. Trotzdem bleibt sie ihm jahrelang treu. Vielleicht weil sie dem Gleichklang verfallen ist, der sich zwischen ihnen einstellt. "Emphatisch und seltsamerweise trotzdem teilnahmslos", so beschreibt Judith Hermann, wie die beiden die Welt betrachten. Sie gibt damit auch einen Hinweis auf die eigene Poetik.
Seit ihrem Erzähldebüt "Sommerhaus, später", dessen gewaltiger Erfolg nur mit einer Vielzahl glücklicher Zufälle zu erklären ist - vom melancholischen Foto der Autorin über den Zeitgeist bis zur neuen Wertschätzung von Erzählungen -, wird jedes neue Werk daran gemessen. Für die Autorin ist das Fluch und Segen. Sie hat gelernt, damit umzugehen. Sie publiziert nicht viel, aber in regelmäßigen Abständen. Seit ihrem Debüt 1998 sind zwei Erzählungsbände und der Roman "Aller Liebe Anfang" erschienen. "Lettipark" ist ihr fünftes Buch.
Die "Lettipark"-Geschichten sind Ausstattungsprosa
Wer den Band von vorn nach hinten liest, ist zunächst überrascht, wie schlecht die Geschichten erzählt sind. Eigentlich sind sie gar nicht erzählt. Es ist eine Ausstattungsprosa, die dem Leser die Dinge bloß nennt, die er sich vorstellen soll: sieben Tonnen Kohle beispielsweise, einen kleinen Jungen auf einem Fahrrad, einen Circuswagen, vor dem eine Frau auf ihren Freund wartet. Das ähnelt eher einem Film-Exposé als einer Erzählung, die von Verdichtung lebt - sei es durch verschlungene Bezüge wie etwa bei Alice Munro oder durch gezieltes Weglassen wie bei Raymond Carver.
Und doch entwickeln vor allem die späteren Geschichten einen Zauber. Hat man ihn erst entdeckt, strahlt er auch auf die früheren zurück. Was Judith Hermann eigentlich erzählt, sind Konstellationen. Ein paar Figuren, die sie gern beim Vornamen nennt, setzt sie in lose Beziehung zueinander - und wartet ab, was geschieht. Früher waren das rauchende, träumende, zaudernde junge Menschen. Inzwischen sind sie meistens Mitte vierzig (wie die Autorin) und haben ein gutes Stück Leben hinter sich. Sie sind "Wege ins Ungefähre" gegangen. Dort, wo sich diese Wege kreuzen, platziert Judith Hermann ihre meist im Präsens erzählten Geschichten, deren Pointen häufig kleine Nachdenklichkeiten sind: etwa die Überlegung, wie das Leben des vierjährigen Vincent vom frühen Tod seiner Mutter bestimmt sein wird.
Man muss Hermanns Geschichten Empathie-Vorschuss gewähren
Oft schildern sie eine Wiederbegegnung. Mal verläuft sie verstörend wie in der Titelgeschichte, in der Rose in einem Supermarkt Elena wiedertrifft, das einstmals schönste Mädchen der Straße, das mittlerweile zu einer traurigen Riesin mutiert ist. Mal verläuft sie absehbar und dennoch beglückend. So ist ein nach Jahren zurückgekehrter Kindheits-Freund zwar immer noch ein guter Erzähler und schlechter Zuhörer. Aber sein Blick auf ihren kleinen Sohn verleiht der Freundin das Gefühl, im richtigen Leben gelandet zu sein.
Man muss diesen Geschichten einen Empathie-Vorschuss gewähren, um sie zum Klingen zu bringen. Denn sie erzählen von den diffusen Gefühlen, jenen zwischen Tür und Angel, denen man gewöhnlich kaum Beachtung schenkt. "Lettipark" stellt sie ins Licht eines zögerlichen Nachsinnens.
Judith Hermann: "Lettipark"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016
189 Seiten, 18,99 Euro