Judith N. Shklar: Über Hannah Arendt
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hannes Bajohr. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hannes Bajohr und Tim Reiß
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2020
190 Seiten, 14 EUR
Kritik unter Geistesgrößen
05:15 Minuten
Judith Shklar und Hannah Arendt zählen beide zu den einflussreichsten politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Wie unterschiedlich sie dachten, lässt sich nun in einer erhellenden Sammlung von Texten Shklars über Arendt erfahren.
Wenn ein großer Denker ein Werk einer anderen Ikone seines Faches "blamabel" oder "amateurhaft" nennt, sorgt das immer für heiteres Aufhorchen in der Community; und wenn man sich jetzt, unter den Bedingungen überlieferter Geschlechterklischees, den Vorgang auch noch bei zweien der einflussreichsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts vorstellt, dann hat man einen philosophischen Gassenhauer. Mit Judith Shklars Texten über Hannah Arendt hat man aber auch noch viel mehr.
Parallele Leben von Arendt und Shklar
Auf den ersten Blick gibt es viele Parallelen zwischen den beiden Intellektuellen. Beide deutschsprachige Jüdinnen aus Osteuropa, die vor den Nazis in die USA fliehen mussten, beide politische Denkerinnen, die an den Universitäten ihrer neuen Heimat gegen alle Widerstände in einem sehr männerdominierten System reüssierten, beide mit einem eindrücklichen Werk und einem scharfen Blick für die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, die Erfahrungen von Totalitarismus, Flucht und Vertreibung und einem daraus folgenden ganz persönlichen Einsatz für die Sache der liberalen Demokratie.
Während Hannah Arendt allerdings hierzulande seit Jahrzehnten nahezu ungebrochen fasziniert, hat die Entdeckung von Judiths Shklars Werk im deutschsprachigen Raum erst in den allerletzten Jahren so richtig begonnen. Grundlage dafür ist die verdienstvolle Herausgeber- und Übersetzertätigkeit von Hannes Bajohr beim Matthes & Seitz Verlag. Das jüngste Resultat dieser Bemühungen ist eine Sammlung von Texten und Essays Shklars über Arendt, ergänzt durch ein ausführliches Nachwort Bajohrs. Die Berührungspunkte ebenso wie die Differenzen der beiden Denkerinnen treten in dieser Ausgabe aufs Interessanteste zutage.
Zusammenspiel von Respekt und Distanz
Shklar, Jahrgang 1928 und noch als Kind mit ihrer Familie in die USA geflüchtet, lernte die gut 20 Jahre ältere, akademisch durch und durch in Deutschland sozialisierte Arendt in den 1950er Jahren in Harvard kennen. Ohne Zweifel bewunderte sie sie, aber aus fast allen ihren Texten spricht auch eine große Distanz zu Arendts Denken. Und es ist genau diese Distanz bei gleichzeitig großer Vertrautheit mit dem Werk, welche ihre Texte über Arendt so erhellend macht. Mit einer auch der Zeitgenossenschaft geschuldeten Gnadenlosigkeit (die in der heute einigermaßen verallgemeinerten Arendt-Verehrung kaum mehr vorkommt) zeigen sie die Schwächen – oder manchmal auch nur schon die impliziten, nicht reflektierten Voraussetzungen – in Arendts Denken auf.
Da ist zum einen Arendts Vorliebe fürs griechische Denken. "Niemand litt je an einem schlimmeren Fall von Hellasverehrung als Arendt", schreibt Shklar. Nicht nur, dass Arendt die Antike in einer Shklar zufolge unproduktiven Weise gegen die Moderne ausspielt, nein, ihre Idealisierung der griechischen Demokratie enthält auch einen entscheidenden blinden Fleck: Die rege politische Aktivität des athenischen Bürgers beruhte ja nicht bloß auf einem Klassensystem, sondern schlimmer noch, auf einem Sklavenhaltersystem.
"Romantik der Niederlage" und Snobismus
Da ist zum anderen das, was Shklar die "Romantik der Niederlage" nennt, etwas das sie nicht nur Arendt, sondern allen europäischen Denkern aus dem existenzialistischen (und mithin Arendtschen) Umfeld attestiert, also etwa auch Karl Jaspers und Martin Heidegger: Eine quasi heroische Vorstellung vom Individuum, das in der modernen Massengesellschaft unter die Räder gerät. Für Shklar, deren bedeutendstes Werk "Liberalismus der Furcht" den Akzent stark auf den Schutz von Minderheiten und minder privilegierten Schichten legt, ist das eine unangemessen elitäre, ja snobistische Haltung. Massen sind für sie nicht nur der seiner Traditionen beraubte und politisch mobilisierbare Mob, den Arendt in ihrer Totalitarismus-Theorie beschrieb, sondern sie setzen sich auch regelmäßig aus den schwächsten Mitgliedern einer Gesellschaft zusammen, die es besonders zu schützen gilt.
Der Vorwurf des Elitären verdichtet sich auch in dem wohl persönlichsten Dissens Shklars mit Arendt, nämlich ihrer Kritik an Arendts Unterteilung von Juden in Parvenüs und Parias, in verzweifelt um Assimilation bemühte einerseits und andererseits solche, die sich selbstbewusst als Außenseiter verstehen. Arendt zählte sich selbst ohne Zweifel zu letzteren. Ein Selbstverständnis, das sie die Außenseiterrolle auch innerhalb des Judentums suchen ließ: Die amerikanischen Juden blieben ihr stets fremd, notiert Shklar. Es war nicht erst die Empörung vieler Juden über Arendts Eichmann-Buch und dessen Kritik an der Rolle der osteuropäischen Judenräte bei der nationalsozialistischen "Endlösung", welche zur Entfremdung führte. Sie war vielmehr immer schon da.
Es sind solche grundlegenden Einsichten einer kritischen Zeitgenossin, weit mehr als der voyeuristische Kitzel von gelegentlich (allzu) scharf und polemisch formulierter Kritik an einzelnen Werken, die das Buch lesenswert machen. Man lernt mit Judith Shklar enorm viel über Hannah Arendt.