Jüdinnen und Juden in Chemnitz

"Wir denken übers Kofferpacken nach"

Demonstranten stehen in Chemnitz vor der Karl-Marx-Statue. Darauf ein Spruchband: "Chemnitz ist weder grau noch braun."
Demonstranten für ein buntes Chemnitz. © picture alliance / Lars-Josef Klemmer
Von Sebastian Engelbrecht |
Eigentlich sei Chemnitz eine sehr friedliche Stadt, sagt die 83-jährige Renate Aris, die jahrzehntelang in Schulklassen als Zeitzeugin vom Überleben im Nationalsozialismus berichtet hat. Nun wächst in der jüdischen Bevölkerung in Chemnitz die Angst.
Die Reise mit der "Mitteldeutschen Regiobahn" von Leipzig nach Chemnitz scheint in die Vergangenheit zu führen, in Waggons aus den Zeiten der Deutschen Reichsbahn.
Dann aber, in Chemnitz, ist alles anders als früher. Junge Männer aus aller Welt ziehen durch die Straßen – Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Vietnamesen und Afrikaner. Es ist ein buntes Bild, eher bekannt aus Berlin oder Köln. Für die Chemnitzer immer noch ungewohnt.
Auch für Renate Aris, 83 Jahre alt. Sie lebt seit 1969 in Chemnitz, heute in einer kleinen Dachwohnung. Als zehnjähriges jüdisches Mädchen entging sie in einem Versteck in Dresden dem Transport ins KZ Theresienstadt. Die Demonstrationen von Neonazis und Anhängern der rechtspopulistischen Bürgerbewegung "Pro Chemnitz" kommentiert sie mit Abscheu, aber gefasst.
Renate Aris, Überlebende der Schoa, in ihrer Chemnitzer Wohnung
Rechtsradikale Umtriebe gibt es in Chemnitz schon seit Beginn der 90er-Jahre, sagt Renate Aris.© Deutschlandradio / Sebastian Engelbrecht
"Ich muss sagen, in dieser Stadt – eigentlich ist es eine sehr friedliche Stadt. Und mich hat unwahrscheinlich schockiert, dass innerhalb von kürzester Zeit tausende Menschen, die in dieser Stadt eigentlich nichts zu suchen haben, hier in der Stadt erschienen und sich derartig benommen haben."

"Wehret den Anfängen" ist nur noch eine Floskel

Aber es sind nicht nur rechtsradikale Krawalltouristen, die in Chemnitz auf die Straße gehen. Schon Anfang der 1990er-Jahre, erinnert sich Renate Aris, fielen ihr die rechtsradikalen Hooligans des Chemnitzer FC auf.
"Ich hab früher immer gesagt, vor Jahren – es hat sich ja angezeigt, dass da etwas im Gange ist: 'Wer den Holocaust überlebt hat, überlebt auch das.' Aber das ziehe ich wohl zurück. Langsam bekommt man ein wenig Angst. Und ich sage: 'Wehret den Anfängen!' ist nur noch eine Floskel. Die Anfänge sind schon vor Jahren dagewesen. Und das beängstigt mich."
Blick in den Innenraum der Synagoge in Chemnitz
Die neue Synagoge in Chemnitz gibt es seit 2002. Heute leben rund 600 Jüdinnen und Juden in der Stadt.© picture alliance / Robert B. Fishman
Renate Aris hat jahrzehntelang in Schulklassen als Zeitzeugin vom Überleben im Nationalsozialismus berichtet, Vorträge gehalten und sich in den Gremien der Jüdischen Gemeinde engagiert.
Wir fahren weiter durch Chemnitz. Die Stimmung ist angespannt. Polizeiwagen patrouillieren durch die Stadt. Auch heute ist eine Demonstration von "Pro Chemnitz" angemeldet. Der Taxifahrer will seinen Frust loswerden. Er klagt über die vielen Flüchtlinge in der Stadt:
"Das sind Leute, die passen nicht nach Mitteleuropa, die kommen hierher, die dürfen Ansprüche stellen und so weiter und so fort."

Angriff auf ein jüdisches Restaurant

Das Taxi hält in einem Gründerzeitviertel, vor dem Restaurant "Schalom". Mit Juden habe er es nicht so, sagt der Fahrer. Er weiß, dass hier am 27. August vermummte Männer, bewaffnet mit Steinen und einer Eisenstange, den Wirt angriffen und an der Schulter verletzten. Uwe Dziuballa, ein Mann mit Glatze, runder Brille und gehäkelter Kippa auf dem Kopf, erinnert sich, dass er um 21.40 Uhr auf einmal Geräusche hörte.
Uwe Dziuballa, Besitzer des Restaurants "Schalom" in Chemnitz
Uwe Dziuballa, Besitzer des Restaurants "Schalom" in Chemnitz, wurde angegriffen.© Deutschlandradio / Sebastian Engelbrecht
"Ich dachte mir überhaupt nichts dabei, bin zur Eingangstür gegangen, habe das Restaurant verlassen, stehe draußen, da stehen etwa zehn bis zwölf dunkel gekleidete Personen vor mir, ich denke – oder ich habe gesagt: 'Verschwindet!' In dem Augenblick flogen aber auch schon verschiedene Gegenstände auf mich."
Die Angreifer riefen "Hau ab aus Deutschland, du Judensau!" und rannten davon.
Von der Straßenbahnlinie Vier aus ist das Symbol der gerade erst erstarkten Chemnitzer Jüdischen Gemeinde in der Stollberger Straße unübersehbar: Hier steht seit 2002 die neue Synagoge, ein ovaler hellgrauer Bau. Vorsitzende der Gemeinde ist Ruth Röcher. Sie kam 1994 nach Chemnitz. Geboren wurde sie in Israel. Auch ihr geht immer wieder der Satz "Wehret den Anfängen!" durch den Kopf.

Ein Lebenswerk in Gefahr

"In Sachsen wurde jahrelang dieser Satz nicht verfolgt. Es gab hier Anfänge, und die wurden ignoriert. Und jetzt endlich ist die Zeit, dass es so dazu gekommen ist."
Die "Anfänge" sind für viele in Chemnitz schon länger zu spüren, spätestens seit diesem Jahr.
"Einige Mitglieder reden seit einigen Monaten erst: Wir denken übers Kofferpacken nach. Das sind Sätze, die ich vor einem Jahr nicht gehört habe."
Dann wird Ruth Röcher nachdenklich. Es geht um die Landtagswahlen in Sachsen in einem Jahr.
"Wenn ich mir überlege, hier unter einer Regierung von AfD oder überhaupt rechten Parteien hier in Deutschland zu leben, dann ist vielleicht alles, was wir hier gemacht haben, falsch."
Ruth Röcher hat feuchte Augen. Sie sieht ihr Lebenswerk in Gefahr.
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