Jüdische Feiertage: Das Wochenfest Schawuot

Von Gerald Beyrodt |
Juden in aller Welt feiern beim Schawuot-Fest ein Buch. Sie freuen sich darüber, dass Mose die Tora auf dem Berg Sinai erhielt. Mitglieder von jüdischen Gemeinden erzählen, was ihnen die Tora bedeutet.
Flóra Polnauer: "Hätten wir die Thora nicht bekommen, was würde uns zusammenhalten?"

Josh Spinner: "Der Kern des Wissens kommt von der Thora, und der Kern des Denkens kommt von des Lernens der Thora."

Micha Brumlik: "Ein Kerngebot des Judentums ist: "Du sollst es deinen Kindern erzählen.""

Walter Rothschild: "Jedes Mal, das ich einen Text lese, lerne ich etwas Neues, ich komme nie als gleiche Person zwei Mal am gleichen Text."

Miriam Noa: "Diese kontinuierliche Beschäftigung mit Thora finde ich schon faszinierend, also wenn ich mal länger nicht beten gehe oder nicht mal am Schabbes es schaffe, in die Synagoge zu gehen, dann fehlt mir was, definitiv."

Tagelang ließ sich Mosche (oder Mose) auf dem Berg Sinai von Gott die Thora diktieren. Thora bedeutet Weisung oder Lehre. Der jüdischen Tradition zufolge umfasst sie die fünf Bücher Mose und ist das zentrale Buch des Judentums: Mit Schöpfungs- und Erzvätergeschichten, dem Auszug aus Ägypten und wesentlichen Geboten, die bis heute für Juden wichtig sind. Die Thora endet in der Wüste, kurz bevor die Israeliten das Gelobte Land betreten dürfen. Allerdings macht die traditionelle Sichtweise Probleme, denn dann hätte Mosche die Geschichte von seinem eigenen Tod aufgeschrieben. So meinte der Bibelkommentator Abrahm Ibn Esra im 12. Jahrhundert, alle Abschnitte der Thora seien am Sinai gegeben worden, nur der letzte eben nicht. Heutige liberale Juden glauben, dass Menschen die Thora geschrieben haben - die Gabe der Thora am Sinai ist für sie eine Wertaussage, keine historische Wahrheit.

Neben der schriftlichen Thora gibt es die mündliche: Das sind Kommentare zu den fünf Büchern Mose. Der jüdischen Tradition zufolge wurden diese Kommentare später im Talmud fixiert. Kritische Historiker gehen allerdings davon aus, dass sich die Rabbiner im Talmud ihre eigenen Gedanken machen.

Die Thora ist das Bundesdokument zwischen Gott und dem Volk Israel. Das Dokument, das den Glauben an den einen Gott begründet, ist das Gründungsmanifest des Monotheismus und insofern auch für Christen und Muslime wichtig.

"Und der Ewige sprach zu Moscheh: Schreibe dir auf diese Worte, denn auf den Inhalt dieser Worte schließe ich mit dir einen Bund und mit Jisrael. Und er blieb beim Ewigen vierzig Tage und vierzig Nächte, Brot aß er nicht und Wasser trank er nicht; und schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die zehn Worte."
Zweites Buch Mose, Schemot

An Schawuot feiern Juden den Erhalt der Thora auf dem Berg Sinai. Schawuot bedeutet: Wochen. Denn sieben Wochen nach Pessach sollen Juden Schawuot feiern. Allerdings gehört Schawuot zu den Festen, die Juden oft vergessen:

"Das ist ein total unterschätzter Feiertag",

sagt Rabbiner Josh Spinner, Vorstand des orthodoxen Rabbinerseminars Berlin und Geschäftsführer der Ronald S. Lauder Foundation. Die Gründe liegen für ihn auf der Hand.

"Die Feiertage von Chanukka zum Beispiel haben ganz berühmte und klare kulturelle Symbole zum Beispiel die Lichter oder an Pessach die Mazza, und Schawuot hat das nicht."

Mazza ist Brot ohne Sauerteig, das an Pessach an den Auszug aus Ägypten erinnert, als keine Zeit war, den Teig gehen zu lassen. Doch solch ein Symbol fehlt dem Schawuot-Fest.

Dabei behandelt Schawuot Kernthemen des Judentums: die Thora, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann, und das Studium der Bibel und des Talmuds. Juden nennen solches Textstudium kurz und einfach Lernen.

"Dies sind die Dinge, die der Mensch im Diesseits genießt, deren Stamm aber für die kommende Welt erhalten bleibt. Es sind: das Ehren von Vater und Mutter, Ausüben von Wohltaten, frühzeitiges Erscheinen im Lehrhaus morgens und abends, Ausstatten von Bräuten, das Begleiten von Toten, Andacht beim Gebet, Frieden stiften zwischen Menschen, doch das Thoralernen wiegt alles auf."
Aus dem jüdischen Morgengebet

Seit Jahrhunderten erschließen Juden die Texte nach demselben Verfahren: Zu zweit diskutieren sie über den Text, beziehen kontorverse Standpunkte, versuchen, eine Synthese zu finden. Chavruta nennt sich die Methode, Freundschaft.

Kantorenstudentin Flora Polnauer:"Al schloscha dewarim haolam omed…"

Wie wichtig Juden das Buch nehmen, drückt sich auch im Umgang mit der Schriftrolle aus: In Morgengottesdiensten am Schabbat, montags und donnerstags trägt ein Gemeindemitglied die Rolle durch die Synagoge. Die Rolle ist feierlich in Samt eingehüllt. Juden sprechen von einem Thoramantel. Die Beter küssen die Rolle: Je nach Synagoge drücken sie entweder ihre Lippen auf den Stoff oder berühren die Rolle mit einem Gebetbuch, das sie dann an ihre Lippen führen. Eine große Ehre ist der so genannte Thoraaufruf: Vor der aufgeschlagenen Rolle stehen zu dürfen und Segenssprüche zu sprechen.

Im Zentrum des jüdischen Gottesdienstes steht ein Buch. Schon zu Zeiten, als die Israeliten durch die Wüste wanderten, standen die Buchstaben im Mittelpunkt, erzählt zumindest die Bibel. In der Bundeslade verwahrten die Priester die Gesetzestafeln. Und das zu einer Zeit, als andere Völker Götter und Ikonen verehrten. Die Bibel nennt sie polemisch Götzen. Ein zentrales Gebot auf den Gesetzestafeln lautete:

"Du sollst Dir kein Bild machen."

Miriam Noa betet in verschiedenen Berliner Synagogen.

"Revolutionär ist es auf jeden Fall. Dieser Götzendienst, sich davon abzuwenden, zu sagen: O. K., wir haben jetzt eben diese Tafeln oder dann eben diese Thorarolle,es gibt nur diesen einen Gott, der uns die Thora gegeben hat, und das ist, finde ich, für die damalige Zeit eine sehr große Leistung."

"Kein Götzenbild, kein Gesicht, kein Name, sondern ein Text. Und ein Text, man braucht die Augen, man braucht die Ohren, man braucht den Gehirn, zwischen den Ohren",

sagt Walter Rothschild, Landrabbiner von Schleswig Holstein.

"Die Juden haben nicht Schreiben und Lesen entwickelt. Aber für uns waren die Bücher, die Rollen, die Prophetenrollen, die Gebetbücher später sehr, sehr wichtig. Man kann in eine Kirche gehen als Analphabet und dort sitzen. Man bekommt fast alles mit im Gottesdienst. Man kann in keine Synagoge gehen als Analphabet. Man braucht ein Gebetbuch. Man muss es lesen können. Man muss wissen, was die Leute tun. Deswegen waren Juden fast nie Analphabeten. Jedem Kind wurde beigebracht zu Lesen."

Innerhalb eines Jahres schreiten jüdische Gemeinden durch die Thora, lesen kurz nach dem Neujahrsfest im Herbst die Schöpfungsgeschichte und enden mit dem Tod des Mosche im fünften Buch Mose.

Wer regelmäßig in die Synagoge geht, kennt die fünf Bücher Mose gut und fast jeder hat eine Lieblingsstelle. Miriam Noa mag besonders die Erzählung von der Arche:

"Mein Familienname legt es nahe, der Wochenabschnitt, wo es um Noa geht, das ist eine sehr plastische Geschichte, mit der man auch als Kind schon viel anfangen kann irgendwie, und - ich mag Tiere sehr gerne, kann auch sehr gut mit Tieren."

Walter Rothschild findet den Beginn der Thora faszinierend – die Schöpfungsgeschichte:

"Es ist auch Globalisierung von Anfang an. Gott ist der Gott der ganzen Welt und nicht nur von einer bestimmten Gruppe. Gott hat nicht nur ein bestimmtes Land geschaffen, sondern den ganzen Globus."

Langweilig findet Walter Rothschild keine Thorastelle, selbst komplizierten Ahnenreihen könne man etwas abgewinnen. Ärgerlich sei, was manchmal aus der Bibel gemacht werde:

"Was ich wirklich hasse, ist nicht die Bibel, sondern diese Kinderbibeln. Mit einer hübschen jungen Brünette in einem Bademantel mit einem Tonfass auf ihrem Kopf. Und man denkt, das ist die Bibel, aber das ist es nicht."

Obwohl Schawuot ein unterschätzter Feiertag ohne prägnante Symbole ist, gibt es einen vergleichsweise jungen Brauch aus dem 16. Jahrhundert, der in den letzten Jahrzehnten immer populärer wird: Juden auf der ganzen Welt werden heute Abend wach bleiben und gemeinsam in der Synagoge Thora lernen. Je nach Synagoge, liest man das Buch Ruth oder die Anfänge zu sämtlichen Thoraabschnitten oder hält Workshops zu jüdischen Themen. So kennt es Miriam Noa.

"Ich finde, zwischen zwei und vier ist es immer besonders schwierig, nicht einzuschlafen."

Mit dem Morgengrauen beginnen Juden das Morgengebet Schacharit.
"Gleich mit Sonnenaufgang, und dann weiß man, was man gemacht hat, und dann kann man auch beruhigt noch mal schlafen gehen."

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