Wie eine große Familie
Malta ist wie Israel, nur friedlicher: eine mediterrane, dicht besiedelte Hügellandschaft, kleine Felder. Die Israelis kommen gerne nach Malta, doch die jüdische Gemeinde zählt nur rund 100 Seelen. Der Rabbi Chaim Segel kümmert sich um sie.
Die Dienstags-Schul der jüdischen Gemeinde von Malta beginnt. Rabbi Chaim Segel sitzt an seinem Laptop und doziert über religiöse Fragen. Ruben Ohayón, Enkel des letzten Rabbiner von Malta, organisiert die Gemeinde. Sein Vater ist der Vorsitzende.
"In der Gemeinde feiern wir alle Feste und Feiertage. Chanuka, Purim. Dann machen wir ein Fest zu Yom Haz Ma'ut. Dann haben wir hier in der Schul alle 14 Tage Thora-Unterricht für die Kinder. Da kommen im Schnitt zehn Kinder."
Rabbi Chaim Segel, ein Chabad Lubawitscher, ist 2012 mit seiner Familie aus Israel nach Malta gekommen. Das Land sieht aus wie Zentral-Israel: Mediterrane, dicht bebaute Hügellandschaft, reichlich Steine und Felsen, kleine Felder, Buschwerk. Segel fühlt sich in Malta wohl.
"Die Menschen hier auf Malta sind sehr gastfreundlich. Das gilt auch für die Juden und die jüdische Gemeinde. Das sehen wir zum Beispiel am Chanuka-Fest. Das stellen wir in Valletta jedes Jahr eine große Menora auf. Viele Malteser kommen und freuen sich. Wir fühlen uns hier wirklich willkommen."
In der nahen Hauptstadt Valletta gab es einst zwei Synagogen. Nachdem die meisten Juden ausgewandert waren, wurden sie aufgegeben und später abgerissen.
Schwere Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg
"Während des Krieges waren die Engländer hier. Malta wurde von den Deutschen schwer bombardiert. Der größte Teil der Bevölkerung lebte damals – anders als heute - in Valletta, auch mein Großvater Rabbinissimo Ohayon mit seiner Frau Donna und der ganzen Familie. Mein Vater hat mir erzählt, dass Valletta schwer bombardiert wurde, Tag und Nacht. Meine Familie hat drei Jahre lang im Luftschutzbunker geschlafen. Der Platz war knapp. Die Kinder und die Frauen schliefen im Bunker, mein Großvater und die größeren Jungs im Keller unter der Schul. Bei Luftalarm sind Sie denn schnell in den Luftschutzbunker gelaufen."
Ruben, Jahrgang 1961, kennt von seinem Vater und Großvater viele alte Geschichten. Den Juden ging es während des Krieges nicht besser und nicht schlechter als allen anderen.
"Wer einen Laib Brot hatte, teilte ihn mit zwei Familien. Die Leute haben sehr, sehr eng zusammengehalten. Juden und Nichtjuden. Nach dem, was mir mein Vater erzählt hat, waren alle wie eine Familie."
Juden lebten schon zu römischer Zeit auf Malta, vielleicht auch schon davor.
"Manche Historiker sagen, dass der Name Malta vom hebräischen Lehi Malet kommt. Das ist eine Art Schutzgebäude oder Unterstand. Maletta finden Sie sogar in den Tehilim, zum Beispiel 'Ha shem Maletta naw shi, Gott rette meine Seele.' In den Bereshit steht die Geschichte von Avraham Awejnu: 'Als Lod von den Engeln gerettet wurde, bat er die Engel um die Flucht nach Soar.' Da steht Malta in verschiedenen Formen des Verbs. Nach Erkenntnissen von maltesischen und israelischen Historikern kam Juden vor 3.000 Jahren als Händler nach Malta. Viele Historiker haben diese Vermutung bestätigt."
Ehrenämter vom Vater übernommen
Ruben Ohayons Vorfahren kamen Anfang des 20. Jahrhunderts nach Malta. Der damalige Rabbiner von Malta suchte einen Nachfolger. Seine Wahl fiel auf Rubens Großvater, der damals in Portugal lebte. Seit 1934 kümmert sich die Familie um die Mikwe und den jüdischen Friedhof in Marsa. Ruben hat das Ehrenamt des Leichenwäschers und Bestatters von seinem Vater übernommen.
"Einerseits ist es ein gutes Gefühl, sich um die Toten zu kümmern, so wie es mein Vater tat und jetzt mein Bruder Israel, mein Sohn Joschua und ich. Andererseits ist es keine leichte Aufgabe, Freunde und andere Mitglieder der Gemeinde zu begraben. Da musst Du mit heftigen Gefühlen klarkommen. Du brauchst Mut. Und körperlich musst du auch gesund sein. Dann brauchst du eine Menge Zertifikate. Es ist eine komplizierte Aufgabe. Kürzlich haben wir den reformierten Rabbiner begraben. Bevor er gestorben ist hat er mir gesagt, wie er sich seinen letzten Weg wünscht. Daran haben wir uns gehalten, wie bei jedem anderen Juden auch."
Kraft für diese oft belastende Aufgabe schöpft der kleine, fromme Ruben Ohayon aus dem Glauben.
"Vor vier Jahren zum Beispiel habe ich einen guten Freund begraben. Er war mit nur 45 Jahren gestorben. Das war der einzige Fall, der mir wirklich das Herz gebrochen hat. Eine Woche lang habe ich danach nicht mehr gesprochen. Er hinterließ zwei kleine Kinder, ein und drei Jahre alt, zwei erwachsene Kinder und eine junge Frau. Wir haben den Toten gewaschen, ihm sein Totenhemd in unserer Fabrik genäht, haben es ihm angezogen und haben ihn zwei Tage später beerdigt. Das war sehr bewegend. Viele haben geweint."
Das jüdische Leben auf Malta geht weiter. Inzwischen sind neben Rabbi Chaim Segal weitere Israelis nach Malta gezogen und haben sich der Gemeinde angeschlossen. Segal ist Chabad Lubawitscher, die Gemeinde nicht. Der Rabbi nimmt's gelassen:
"Wir Juden haben alle dieselbe Seele. Deshalb sehe ich keinen Unterschied. Ich arbeite mit jedem von ihnen gerne zusammen."
Die Gemeinde anscheinend auch.