Ein Zuhause in der Synagoge
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Lokale Gemeinden sind in vielen Religionen der Ort, wo Glaube praktiziert wird. Jüdinnen und Juden in Deutschland ist die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde oft noch aus anderen Gründen wichtig – dazu zählt auch der erstarkende Antisemitismus.
Ein Freitag-Abend im August 2020 in der liberalen Synagoge von Hannover. So wichtig der feierliche Beginn des Schabbats im Judentum ist – in den jüdischen Gemeinden in Deutschland wird er unterschiedlich willkommen geheißen, je nach Ausrichtung und Größe der Gemeinde. 105 lokale Gemeinden gibt es hierzulande unter dem Dach des Zentralrats der Juden, außerdem 27 Gemeinden, die der Union progressiver Juden in Deutschland angehören.
Unterschiedliche Zugänge zum Judentum
"Für mich ist, diese jüdische Gemeinschaft hier zu haben, auch wirklich einer der Gründe, warum ich niemals aus Berlin wegziehen würde", sagt Nina Peretz von der Gemeinde am Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg.
"Was ich an der jüdischen Gemeinde vor allem nutze und schätze, das ist der große innerjüdische Pluralismus von orthodox über liberal bis ultraorthodox bis konservativ", betont der in Berlin lebende Publizist Micha Brumlik.
"Judentum ist sehr gemeindeorientiert – um die ganze Vielfalt von jüdischem Leben haben zu können, braucht man eine Gemeinde", sagt die Wahlberlinerin Nadia Schapiro.
Ihre Zugänge zum Judentum könnten kaum unterschiedlicher sein – und doch eint die drei, dass sie ohne Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde nicht leben möchten.
"Die Synagoge ist unser jüdisches Zuhause", erzählt Nina Peretz. "Und es bedeutet uns sehr viel, dass wir uns dort seit vielen Jahren engagieren und auch die Früchte dieser Arbeit sehen. Dass die Synagoge sehr stark gewachsen ist, die Synagogengemeinschaft, viele junge Familien gekommen sind und dass aber eben auch die älteren Menschen auch noch dort sind, also die ganze Diversität der jüdischen Gemeinschaft bei uns zu finden ist, das ist sehr schön."
Eine volle Synagoge wärmt das Herz
Nina Peretz hat einen Israeli aus orthodoxer Familie geheiratet und ist zum Judentum übergetreten. Seit 2008 engagiert sie sich ehrenamtlich im Gemeindevorstand der Synagoge am Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg. Gemeindeleben bedeutet ihr Willkommenskultur für Jüdinnen und Juden mit unterschiedlichem Hintergrund, bedeutet Bildungsarbeit und den Aufbau von Freundschaften und sozialen Beziehungen:
"Familienprogramme, regelmäßige Schabbat-Abendessen. Große Feiern zu den Feiertagen – zum Teil mit 300 Leuten eben, und das ist ein extrem herzerwärmendes Gefühl, wenn die Synagoge aus allen Nähten platzt."
Auch Mati Shemoelof findet seinen Weg gelegentlich in die Synagoge am Fraenkelufer. Dabei fremdelt der seit 2013 in Berlin lebende israelische Schriftsteller, der sich in seinen Texten intensiv mit seiner jüdischen Identität auseinandersetzt, mit den hiesigen Gemeinden:
"Ich fühle mich mit der Gemeinschaft der deutschen Juden nicht so verbunden. Meine jüdische Erfahrung ist einfach ganz anders. Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, wo alle jüdisch waren."
Nicht wegen Antisemitismus in die Synagoge
Mati Shemoelof versteht sich als traditioneller Jude mit arabisch-sephardischen Wurzeln. Er wirbt für einen Ausgleich mit den Palästinensern – eine politische Haltung, die in deutschen jüdischen Gemeinden oft kritisch gesehen wird. Einer jüdischen Gemeinde anzugehören ist für Mati Shemoelof Ausdruck von Spiritualität – nicht von Politik.
"Ich möchte nicht wegen Antisemitismus in die Synagoge gehen, und ich möchte nicht deshalb zu einer jüdischen Gruppe gehören", sagt Shemoelof. "Ich möchte in die Synagoge gehen, um eine Verbindung zu Gott herzustellen, die heiligen Schriften zu lesen und über die Kultur nachzudenken."
Das Gewicht der Gemeinde ist beruhigend
Für die Psychotherapeutin Eva Umlauf, die der Münchner jüdischen Gemeinde angehört, ist dagegen die Gemeinde auch als politische Größe bedeutsam. Sie war als Kind in Auschwitz, hat in der kommunistischen Tschechoslowakei Antisemitismus erlebt und kam 1967 jung verheiratet nach Deutschland, wo ihr Mann sich in der jüdischen Gemeinde engagierte:
"Es ist schon auch eine Organisation, die Gewicht hat – wenn antisemitische Vorfälle passieren. Also, ich finde schon, dass das sehr wichtig ist, auch für mich: Ich weiß, dass, wenn ich es brauchen würde, die Gemeinde hinter mir steht."
Und auch für die Münchner Soziologin Ruth Zeifert ist die politisch-historische Dimension des Jüdisch-Seins relevant. Ihr Vater ist Israeli, seine Familie konnte vor den Nationalsozialisten nach Palästina fliehen. Ohne jüdische Mutter, als sogenannte "Vaterjüdin" aber gilt Ruth Zeifert nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, nicht als jüdisch – und kann deshalb einer Gemeinde bislang nicht als vollwertiges Mitglied angehören.
"Ich verstehe mich in jedem Fall als säkular, und das ist bis heute auch das Problem, diese Zugehörigkeit zu finden", sagt Zeifert. "Also, wenn ich jüdisch sein wollte, müsste ich religiös übertreten."
Ein Ort der Traditionsvermittlung
Ruth Zeifert möchte dennoch ihren Töchtern jüdische Traditionen, Kultur und Geschichte vermitteln – und sie auch mit anderen Jüdinnen und Juden zusammenbringen. Deshalb hat sie Anschluss an eine jüdische Gemeinde gesucht:
"Und dann hatte ich das Glück, dass wir hier in München auch eine liberale Synagoge auch haben und dass unser Rabbiner auch wunderbar offen ist – und der war sehr offen, dass meine Kinder daran teilnehmen und das wurde dann auch immer mehr."
"Wir sind 2002 nach Berlin gekommen mit zwei kleinen Kindern", erzählt Nadia Schapiro, "haben uns erst mal umgeschaut und waren kurz dort, kurz dort, kurz dort – und irgendwann kurz danach sind wir bei Chabad gelandet. Das war damals auch eine sehr junge Gemeinde im Wachstumsprozess und ohne feste Gebäude, und wir sind dann treu geblieben durch alle schönen und schweren Zeiten – ohne, dass wir uns als Chabad definieren werden."
Infrastruktur für ein frommes Leben
Nadia Schapiro versteht sich als "modern-orthodox" und teilt nicht alle Überzeugungen und Rollenvorstellungen der aus Osteuropa stammenden Chabad-Bewegung. Die sechsfache Mutter ist in Moskau geboren und hat dort auch ihre Ausbildung als Anästhesistin abgeschlossen. In Berlin arbeitet sie in einer Klinik für Geburtshilfe. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Israel ist sie mit ihrem Mann nach Berlin gezogen, um den Großeltern ihrer Kinder nahe zu sein. Sie lebt mit ihrer Familie streng nach den jüdischen Gesetzen:
"Die Definition von frommer Familie wird auf drei Säulen stehen – das ist Schabbat, koscheres Essen und sogenanntes Taharat ha Mischpacha – also Regeln um das Familienleben. Das bedeutet: Jede jüdische Familie braucht eine Mikwe, das ist dann dieses Bad, das einen wichtigen Teil des jüdischen Lebens ermöglicht. Und natürlich: Eine Mikwe baut man auch nicht für sich allein, das baut eine Synagoge für die ganze Gemeinde."
Der jüdische Kindergarten, die jüdische Schule, die vielfältigen Ausbildungsangebote, ein koscheres Restaurant – ohne die Angebote ihrer Gemeinde wäre ihr jüdisches Leben deutlich ärmer, sagt Nadia Schapiro.
Wo die einen praktische Unterstützung für religiöse Lebensführung finden, geht es anderen grundsätzlich um eine Zugehörigkeit zum Kollektiv – so erklärt der seit 2005 in Berlin lebende Hochschullehrer Micha Brumlik:
"Es ist mir wichtig, Mitglied der jüdischen Gemeinde zu sein, weil ich damit sowohl für mich selbst als auch für andere bekunde, Mitglied der jüdischen Gemeinschaft zu sein."
Religiöser Pluralismus innerhalb der Gemeinde
Brumlik bezeichnet sich als traditionell-säkular. Er entzündet Kerzen zum Schabbat, besucht die Synagoge an den Feiertagen, lebt aber nicht koscher. Seit er 1952 als Fünfjähriger mit seinen Eltern aus der Schweiz nach Berlin zog, gehört er einer Gemeinde an. Brumlik schätzt die religiöse Vielfalt in Berlin:
"Die jüdische Gemeinde zu Berlin ist, was den religiösen Pluralismus angeht, vorbildlich. Ich finde auch sehr gut, inwieweit sie hier in Berlin Schulen betreibt, an der Volkshochschule hab ich mal ein, zwei Veranstaltungen mitgemacht, die fand ich ganz gut."
Eva Umlauf erklärt: "Die Gemeinde ist schon ein Treffpunkt, wo manche Leute durch die religiöse Schiene sehr viel Zusammenhalt finden – das ist bei mir nicht der Fall, ich bin eher auf der kulturellen Schiene in der Gemeinde, wo ich bei Lesungen, Filmvorführungen, Orchesterkonzerten sehr gerne dabei bin."
Kulturelle Veranstaltungen für alle
Die Schoah-Überlebende Umlauf begrüßt, dass diese kulturellen Veranstaltungen auch der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft offenstehen. Und zugleich schätzt sie, dass die jüdische Gemeinde ihr einen Raum bietet, um über innerjüdische Themen geschützt zu sprechen. Aber noch etwas ist ihr als Jüdin und Überlebende wichtig:
"Ich bin schon in einem Alter, wo man denkt, dass man irgendwann auch auf dem jüdischen Friedhof liegen möchte. Und wenn du nicht ein Gemeindemitglied bist, dann kannst du nicht auf den jüdischen Friedhof – und das ist mir schon ganz wichtig, dass man, wenn man jüdisch lebt, auch jüdisch stirbt."