Jüdische Gemeinden mit Nachwuchssorgen

Keine "Konversion light" für neue Mitglieder

10:22 Minuten
Der Landesrabbinder von Mecklenburg-Vorpommern Yuriy Kadnykov spricht vor einer halb leeren Gemeinde.
Früher war es voller in der Synagoge. Nicht nur die Gemeinde im mecklenburgischen Schwerin kämpft um Nachwuchs. © Picture Alliance / dpa / Bernd Wüstneck
Von Jens Rosbach |
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Die jüdischen Gemeinden überaltern und schrumpfen. Rabbiner werden in Deutschland immer seltener zu Bar und Bat Mizwas gerufen. Liberale Gemeinden möchten deshalb jüdischen Zuwanderern aus dem Osten den Eintritt erleichtern. Die Orthodoxen sind dagegen.
Chanukka-Feier – Lichterfest - in der Synagoge von Schwerin, der mecklenburg-vorpommerschen Landeshauptstadt. Ein siebenarmiger Leuchter brennt, drei Musiker im schwarzen Anzug sorgen für Stimmung, und auf den Holzbänken klatschen die Beter im Takt.
Doch einige Sitzplätze sind leer. Und beim Schabbatgebet am Freitagabend sind die Reihen noch stärker gelichtet. Denn die jüdische Gemeinde ist überaltert.
"Die Liste von Verstorbenen unserer Gemeinde wird immer länger in diesen Jahren. Und die Menschen erinnern sich an diejenigen, die neben ihnen saßen, und der ist plötzlich weg. Die Menschen sind schon traurig."

Yuriy Kadnykov – groß, schlank und mit rotem Vollbart – ist der Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern. Der 44-Jährige stammt aus der Ukraine und muss in Schwerin ständig auf den Friedhof gehen, anstatt jüdische "Jugendweihe" zu feiern: die Bar Mizwa bei Jungen und die Bat Mizwa bei Mädchen.
"Im letzten Jahr in Schwerin wir hatten keine einzige Bar Mizwa oder Bat Mizwa – dagegen so circa 20 Beerdigungen."
Gedenkveranstaltung anlässlich des 81. Jahrestages der Pogromnacht auf dem Jüdischen Friedhof Rostock.
In vielen jüdischen Gemeinden gibt es inzwischen mehr Beerdigungen als Bar oder Bat Mitzwas für Jugendliche. © Picture Alliance / dpa / Bernd Wüstneck
Die Schweriner – und die benachbarte jüdische Gemeinde in Wismar – hatten vor 20 Jahren zusammen rund tausend Mitglieder, heute sind nur noch 670. Längst mussten Jugendclub und Kinder-Sonntagsschule geschlossen werden. Zudem sind Gemeindehelfer rar geworden.
"Wenn man 40 Jahre alt war, konnte man viel übernehmen ehrenamtlich. Wenn man 60 wird, dann schon weniger, und wenn man 80 ist, dann kommt man nicht zu jedem Gottesdienst oder nur zu den Feiertagen", sagt Kadnykov.

Etwa tausend Mitglieder weniger pro Jahr

Ob in Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen oder Bayern – seit 2006 sinkt die Zahl der Juden in Deutschland stetig. Die Religionsgemeinschaft verliert bundesweit rund tausend Mitglieder pro Jahr. Chajm Guski, jüdischer Blogger und Gemeindeaktivist aus Gelsenkirchen, bezeichnet die Entwicklung als besorgniserregend.
"Ich denke schon, dass es vorkommen kann, dass im schlimmsten Fall die eine oder andere Synagoge geschlossen werden muss."
Der 41-Jährige, von Beruf Marketingfachmann, hat in seinem Blog "Chajms Sicht" die Mitgliederentwicklung erstmals kritisch analysiert - und ausgerechnet, dass fast jeder zweite Jude in Deutschland über 60 Jahre alt ist. Denn viele der rund 200.000 Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion kamen als gestandene Erwachsene oder als Rentner hierher. Durch die Überalterung könnten die rund einhundert jüdischen Gemeinden in Deutschland bald viel zu große Sozialreinrichtungen und Bethäuser haben, befürchtet Guski.
"Das Problem ist, dass die Gemeinden natürlich große Infrastrukturen bereithalten, die für mehr Menschen ausgelegt sind. Bedeutet, wenn ich eine Synagoge mit 200 Plätzen habe - ich habe aber nur zehn Beter -, ist das erstmal deprimierend und zweitens wahrscheinlich auch relativ teuer. Das heißt, am Ende des gesamten demografischen Prozesses bleibt eine Handvoll Gemeinden übrig, in denen sich das gesamte jüdische Leben dann abspielen wird."

Viele ländliche Gemeinden werden aufgeben

Der Gelsenkirchener Jude ist überzeugt: Viele kleine Gemeinden, die heute nur einige Dutzend oder einige Hundert Mitglieder haben, werden aufgeben müssen. Vor allem in ländlichen Regionen und in Ostdeutschland. Das jüdische Leben wird sich auf Berlin, Düsseldorf oder Frankfurt am Main konzentrieren.
"Das bedeutet, dass sich das jüdische Leben in Zukunft – und mit Zukunft meine ich: 25 Jahre – eventuell auf verschiedene Ballungsgebiete beschränkt, das heißt verschiedene Städte, in denen jetzt schon große jüdische Gemeinden existieren."
Überalterung, Mitgliederschwund, drohendes Gemeindesterben: Steht die viel beschworene Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland wieder infrage?

"Ich sehe die jüdische Renaissance in Deutschland nicht in Gefahr", meint Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden:
Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, steht inmitten eines Pulks von Menschen.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden (Bildmitte), glaubt trotz Mitgliederschwunds an eine jüdische Renaissance in Deutschland.© dpa / Gregor Fischer
"Ich sehe die Probleme der Demografie, es geht aber darum, dass wir bemüht sind, gerade Menschen in die Gemeinden zu bekommen, die bislang den Gemeinden fernstanden oder sie verlassen haben, aus verschiedensten Gründen. Da gilt ähnliches für die christlichen Kirchen. Denn wenn ich mit Vertretern der katholischen und evangelischen Kirche spreche, höre ich auch dort, dass es erhebliche Probleme gibt, jüngere Menschen an die Kirchen zu binden."
Der Zentralrat der Juden hat zahlreiche neue Programme aufgelegt, um Basis-Initiativen zu fördern – ob für Studierende, Alleinerziehende, junge Familien oder für Juden, die sich für Flüchtlinge engagieren. Zentralratschef Schuster hat es vor allem auf eine Zielgruppe abgesehen, die sich zumeist in der Start-up-, Kunst- und Partyszene wiederfindet: auf Israelis in Deutschland.
"Ich sage das Stichwort Berlin. Berlin ist hip. Es wird geschätzt eine Szene von jungen Israelis in einer Größenordnung von circa 15.000 bis 20.000 alleine in Berlin, die sich aber primär keiner jüdischen Gemeinde anschließen. Und gerade diese jüngeren Menschen zu erreichen, ist ganz, ganz wichtig."

Kosten sparen bei Synagogen und Rabbinern

Andere Experten sprechen jedoch von einer wesentlich geringeren Zahl von Berliner Israelis. Vor allem aber: Warum sollen sich Zugewanderte aus Tel Aviv oder Haifa, die zumeist nicht besonders religiös sind, an eine jüdische Gemeinde im Ausland binden?
Selbst der Zentralrat macht sich keine große Illusionen: Mit Gemeinde-Zusammenlegungen rechne er auf jeden Fall, räumt Josef Schuster ein. So könnten Kosten gespart werden bei Synagogen und Rabbinern. "Gemeinde-Zusammenlegungen sind absolut eine denkbare Lösung, die man, wenn die Notwendigkeit sich ergibt, auch realisieren sollte."
Nun, da die Zahl der Juden in Deutschland wieder sinkt, wird ein heikles Religionsproblem immer drängender: Viele russischsprachige Kontingentflüchtlinge haben keine jüdische Mutter, wie es die Religionsgesetze vorschreiben. Sie haben "nur" einen jüdischen Vater – und können deshalb nicht Mitglied einer jüdischen Gemeinde werden.
"Das habe ich schon häufig angesprochen, dass wir erleichterte Wege finden müssen, diesen Menschen den Zugang zum Judentum zu ermöglichen. Das heißt: Einfacherer Übertritt für Menschen, die eben familiär jüdisch geprägt sind", sagt Sergey Lagodinsky. Er ist ebenfalls als russischsprachiger Kontingentflüchtling nach Deutschland gekommen, 1993.

Kein leichter Eintritt für Zuwanderer

Viele Jahre engagierte er sich in der jüdischen Gemeinde zu Berlin und nahm öffentlich Stellung zu jüdischen Migrationsfragen. Im vergangenen Jahr wurde er Abgeordneter der Grünen im EU-Parlament. Auch hier kümmert er sich, neben internationalen Rechts- und Bürgerrechtsfragen, um jüdische Belange. Und die Benachteiligung seiner Landsleute treibt ihn besonders um:
"Das ist etwas, was in vielen Gemeinden verschlafen wurde als Thema. Und wir haben sehr viele Menschen eben verloren, weil sie sich abgestoßen fühlten von Gemeinden – nur weil eben nicht die Mutter, sondern der Vater jüdisch war."
Mehr als 90 Prozent der Juden in Deutschland besuchen eine orthodox geprägte Gemeinde - und die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland, kurz ORD, möchte keine "Konversion light" für die Zuwanderer aus den GUS-Staaten. ORD-Vorstand Zsolt Balla beharrt auf den traditionellen Regeln.
"Das orthodoxe Judentum legt Wert auf die konsequente Einhaltung der Halacha, der religiösen Gesetze. Wir können keine Ausnahmen machen, auch nicht bei besonderen Umständen, die Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion erfahren haben."

Strenge Regeln für Neumitglieder

Das orthodoxe Judentum verlangt von Menschen, die keine jüdische Mutter haben, eine aufwendige Konversion, die in der Regel zwei bis drei Jahre dauert. Dabei müssen die Kandidaten die jüdischen Gesetze lernen – und auch bewusst leben.
Flexibler zeigt sich das liberale Judentum: Seine Vertretung, die Allgemeine Rabbinerkonferenz, erlaubt einen erleichterten Übertritt für jüdisch geprägte Zuwanderer. Yuriy Kadnykov, der Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern, wirkt in dem theologischen Gremium mit.
"Wir haben schon ein Programm in unserer Allgemeinen Rabbinerkonferenz, man nennt es Statusklärung. Und dann wir schauen, weil, wenn jemand schon sehr aktiv im jüdischen Leben teilnimmt, und nur sozusagen auf Papieren nicht koscher ist, dann korrigieren wir diese Sache, ja."

Und das heißt: Ein Kandidat, der keine jüdische Mutter hat, muss vor dem Beth Din - dem Gericht der Rabbinerkonferenz - seine jüdischen Bezüge darlegen. Etwa ob er oder sie einen jüdischen Vater oder einen jüdischen Ehepartner hat — oder bereits jüdische Bräuche pflegt: "Wir schauen, ob es den Personen am Herzen liegt, jüdisch zu sein, ob sie sich bekennen zum jüdischen Volk oder nicht. Das ist das Maßgebende bei einem solchen Prozess", erläutert Kadnykov.
Yuriy Kadnykov spricht in der Universitätskirche Rostock.
Yuriy Kadnykov, Landesrabbiner in Mecklenburg-Vorpommern.© Picture Alliance / dpa / Danny Gohlke

Demografische Entwicklung ist nicht aufzuhalten

Jedes Jahr Hunderte Sterbefälle – aber nur wenige Geburten: Selbst erleichterte Konversionen können die demografische Entwicklung nicht aufhalten. Blogger Chajm Guski glaubt, dass das Schrumpfen der Gemeinden in den nächsten Jahren das zentrale jüdische Diskussionsthema sein wird. Nach Ansicht des Gelsenkirchener Aktivisten verschließen allerdings noch viele Gemeindeleitungen die Augen vor dem Mitgliederschwund.
"Ich denke, dass man eventuell die Gemeindemitglieder nicht verunsichern möchte und sagen möchte: Das, was wir hier machen, das ist vielleicht nur temporär, das hat keinen dauerhaften Charakter und deshalb so ein bisschen Optimismus walten lässt. Da wäre es interessant, wenn man das noch einmal auf einer Ebene diskutieren kann, die alle erreicht – ohne Panik zu machen."
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