Darf man eigentlich Jude sagen?
"Jude" zu sagen, fällt vielen schwer. Über Jahrhunderte hinweg ist der Begriff immer wieder verunglimpft worden, vor allem unter den Nationalsozialisten. Die Auswirkungen sind bis heute zu spüren.
"Mir ist aufgefallen über Jahrzehnte, dass das deutsch-jüdische Gespräch – nennen wir es mal so, es ist ein fürchterlicher Ausdruck – ungemein verkrampft ist. Und Verkrampfung ist immer auf beiden Seiten natürlich."
Der Berliner Journalist Michael Wuliger hat den Ratgeber "Der koschere Knigge" geschrieben – Untertitel: "Trittsicher durch die deutsch-jüdischen Fettnäpfchen".
"Es leben in Deutschland 200.000 Juden bei 80 Millionen Bevölkerung. Macht 0,25 Prozent. Der durchschnittliche Deutsche ist also wahrscheinlich noch nie einem Juden leibhaftig begegnet. Was er über Juden weiß, weiß er aus dem Fernsehen, aus Zeitungen, aus dem Geschichtsunterricht. Die Juden, von denen man am meisten hört, sind entweder tote oder irgendwelche Leute mit einer Uzi, die in der Gegend rumballern."
Wuliger – 64 und seit kurzem Rentner – war Feuilletonchef der Wochenzeitschrift "Jüdische Allgemeine". Hier sammelte der Redakteur verbale Verirrungen und Verwirrungen, die aus der deutschen Geschichte resultieren.
"Sprachlich ist mir zum Beispiel aufgefallen, dass die meisten Deutschen eine Hemmung haben, das Wort Jude überhaupt auszusprechen. Als sei es ein Schimpfwort. Also so, wie man heute ja auch nicht mehr Zigeuner sagt, sondern Sinti und Roma. Für Juden gibt’s noch kein Ersatzwort. Also verlegt man sich – und Sie werden das vielleicht kennen – auf solche Formulierungen wie ´in einer jüdischen Familie aufgewachsen` oder ´aus jüdischem Hintergrund` und und und. Nur um Himmels Willen das Wort Jude vermeiden!"
Darf man "Jude" sagen?
"Entschuldigung, darf man im Deutschen das Wort Jude benutzen?"
"Jude… mhh… ich habe es jetzt gerade gesagt. Das bedeutet: Mir ist noch nichts passiert. Ich würde es persönlich…äh … benutzen. Ich komme aus Weimar, da ist ja Buchenwald, das KZ. Deswegen ist das Wort für mich wahrscheinlich so ein bisschen… gibt mir so ein Schauer, als hätte man irgendwas verbrochen, so ´die Juden`, so, keine Ahnung."
Eine Testumfrage auf einem Boulevard der deutschen Hauptstadt. Während die einen Passanten "Jude" kaum in den Mund nehmen wollen, treten andere entschieden dafür ein, das Wort zu verwenden.
"Es ist ja unfair den Juden gegenüber, sie nicht mehr als Juden zu bezeichnen. Sie möchten sich als Juden bezeichnen. Und wenn man jetzt das Wort nicht mehr benutzt, ist ja ähnlich, als wenn man das Wort Christ nicht mehr benutzen würde, weil man denken könnte, man könnte Christen damit beleidigen. Ja – also ich finde es falsch."
"Der gängige Begriff bis vor ein paar Jahren waren die ´jüdischen Mitbürger`. Das klang absolut schrecklich. Mitbürger – nicht jüdische Bürger. Meine Assoziation bei Mitbürger war irgendwie der Mit-Esser. Man tut sich schon mit den elementaren Begriffen schwer."
Michael Wuliger ist selbst Jude – und möchte auch als solcher bezeichnet werden. Doch im deutschen Judentum geht es widersprüchlich zu: Wird Wuliger nach seiner Religion gefragt, verwendet er ebenfalls nicht das Substantiv, sondern das Adjektiv.
"Ich sag meistens: Ich bin jüdisch. Stimmt. Es sitzt… ja ich bin ja auch… es sitzt bei mir wahrscheinlich auch drin."
Das Wort ist negativ besetzt
Was bei vielen "drin sitzt", ist die deutsche Geschichte. Im Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien untersucht Politikwissenschaftler Gideon Botsch, warum das Wort Jude teilweise so negativ besetzt ist. Dafür geht Botsch bis ins Mittelalter zurück.
"In einer bestimmten Phase des Hochmittelalters wird der Begriff zunehmend synonym verwendet für Geldwechsler, Geldverleiher. Weil gerade im lokalen und regionalen tatsächlich das die Profession ist, die Juden eingeräumt wird. Während Christen der Handel mit Geld, also das Verleihen von Geld gegen Zinsen, verboten ist, ist es nahezu die einzige Profession, die Juden legal ausüben können. Und hier gibt es dann ein Ineinanderwachsen von Jude und Geld."
Der Fachmann erläutert, dass ein jahrhundertealter christlicherAntisemitismus hinzukam. Die jüdische Minderheit habe als Jesusmörder und Hostienschänder gegolten, als Judas-Verräter, Lügner und Eid-Brecher.
"Periodisch wiederkehrend merken wir, dass Juden als Feinde, Fremde und andere markiert werden. Also beispielsweise die Darstellung von Juden als optisch anders wahrnehmbar, die wir mit krummen Nasen, dunklen Haaren, lockigen Haaren, seltsamen, schrägen Physiognomien verbinden – diese Darstellung lässt sich offensichtlich ab dem 11./12. Jahrhundert feststellen."
Der mittelalterliche Antisemitismus wurde später von der NS-Propaganda aufgegriffen und in ihre Untermenschen-Ideologie eingebaut. Nach Angaben des Forschers hat es das Dritte Reich geschafft, das Wort Jude gleichzusetzen mit allem, was irgendwie schlecht erschien. Dabei arbeiteten die Nazis mit psychologischen Mitteln. So stand auf jeder Titelseite des NS-Hetzblattes Der Stürmer "Die Juden sind unser Unglück!".
"Das ist auch ein Aspekt, der natürlich für den Nationalsozialismus eine ganz große Rolle spielt: die permanente Wiederholung und die Omnipräsenz des Ausdrucks Jude."
Juden-Hetze der Nazis
Heidrun Kämper, Germanistin am Mannheimer Institut für Deutsche Sprache. Die Professorin hat die Propaganda-Techniken der Nationalsozialisten unter die Lupe genommen – vor allem in den NS-Massenmedien.
"In den Programmpausen im Rundfunk hat es dann so Einspielungen gegeben, kurze Verse: Der Bauer pflügt, der Jude lügt. Oder: Der Maurer baut, der Jude klaut. Und wenn man also in allen Lebensbereichen immer wieder solchen Formulierungen begegnet, dann passiert natürlich was in den Köpfen der Menschen."
Auffällig: Die braunen Ideologen nutzten gern abfällige Wort-Kombinationen wie Juden-Knecht, Juden-Republik oder Juden-Witz. Bei ihrer Hetze sprachen sie zudem selten von "den Juden" in der Mehrzahl, als von "dem Juden" in der Einzahl.
"Das ist eine Form von Typisierung, der Generalisierung in dem Sinn. Der Jude, der Engländer, der Deutsche. Das gehört in den Zusammenhang rassistischen Denkens."
Gideon Botsch vom Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum bilanziert: Die sprachliche Markierung der Juden als niedere Geschöpfe war eine entscheidende Vorstufe des Holocaust.
"Raul Hilberg, der erste große Historiker, der wirklich die Vernichtungspolitik analytisch durchdrungen hat, sagt: Die Definition steht am Anfang. Ohne Definition keine Vernichtungspolitik. Weil man musste zunächst mal sagen, wen will man überhaupt treffen."
Kein Wunder, dass bei all der historischen Abwertung und Verteufelung viele Deutsche bis heute eine Scheu haben, den Begriff Jude zu benutzen. Forscher beobachten allerdings mit Sorge, dass an Stammtischen oder in Medien stattdessen gern über "die Israelis" oder "die Zionisten" geschimpft wird.
"Israel tritt so ein bisschen in die Stellvertreterfunktion ein und deswegen sagen manche Interpreten der Situation: Israel ist heute der kollektive Jude geworden."
Schimpfwort auf Schulhöfen
Politikwissenschaftler Gideon Botsch beobachtet ein weiteres Phänomen – vor allem auf deutschen Schulhöfen, wo Teenager mit Migrationshintergrund gerne provozieren.
"Wir haben seit zehn, fünfzehn Jahren einen jugendsprachlichen Zusammenhang, Jude zu verwenden. Das ist natürlich extrem beleidigend – um sich abzugrenzen von einer Opferrolle: Du Jude, du Opfer! – ist der Verwendungskontext. Ich will kein Opfer sein, deswegen will ich kein Jude sein."
Ist es nun angebracht, Jude zu sagen oder nicht? Oder sollte man vorsichtshalber den Begriff umschreiben? Hinzu kommt eine weitere Irritation: Vielen rutscht gern mal die Formulierung heraus "die Deutschen und die Juden". Als wenn die Juden hierzulande keine Deutschen wären. Eine Formulierung, die allerdings auch Juden selbst benutzen. Schließlich bezeichnet Jude nicht nur die Zugehörigkeit zu einer Religion, sondern auch zu einer Kultur und einem Volk. Buchautor Michael Wuliger betont, dass nicht einmal die jüdische Spitzenvertretung in ihrer offiziellen Bezeichnung die Kombination "deutsche Juden" verwendet.
"Ich finde schon interessant, dass sich der Zentralrat ´Zentralrat der Juden in Deutschland` nennt, bis heute. Juden in Deutschland transportiert unterschwellig die Vorstellung man sei nur zeitweise hier. Das geht zurück auf die Jahre nach `45; als die meisten Juden vor sich hertrugen die Vorstellung: Wir gehen aber nächstes Jahr oder spätestens übernächstes Jahr nach Israel oder nach Amerika. Aber wie gesagt: Der eigene Begriff Zentralrat der Juden in Deutschland transportiert kein Begriff von Normalität."
Rückblick – vergangenen Juli in Berlin. Rund 2000 jüdische Sportler aus aller Welt nehmen an den "European Maccabi Games" teil. Diese jüdische Olympiade findet hierzulande zum ersten Mal statt. Die jungen deutschen Teilnehmer – und auch der Veranstalter, der deutsche Maccabi-Chef Alon Meyer – feiern euphorisch das Event.
"Vor allem, dass ich sehe, dass unsere jungen Menschen ein neues, deutsch-jüdisches Selbstbewusstsein und Selbstverständnis in sich tragen. Weg vom in sich gekehrten, hin zu einem offenen modern frischen jüdischen Leben in Deutschland und dass sie bei diesen European Maccabi Games auch so zum Ausdruck bringen."
Ein neues deutsch-jüdisches Selbstverständnis. Auch Politikwissenschaftler Gideon Botsch spricht von einer neuen Einstellung junger Juden zu Deutschland.
"Obwohl es auch eine Auffassung gibt, das deutsche Judentum ist ab 1933/38 untergegangen. Ein deutsches Judentum – gibt es das heute noch?"
Die Formulierung "deutsche Juden"
Berlin-Mitte, in der Gedenkstätte Topographie des Terrors. Vor einem meterlangen Bücherregal findet der Direktor, und Rabbiner, Andreas Nachama eine Antwort auf die Frage, wer die Formulierung "deutsche Juden" scheut und wer nicht.
"Meine Mutter ist ja Berliner Jüdin, die in den 20er-Jahren in Berlin geboren ist, hier aufgewachsen ist, hier versteckt war, den Holocaust überlebt hat und mich hier groß gezogen hat. Also ich gehöre ja sozusagen – wenn Sie so wollen – zu dieser Gruppe tatsächlich der deutschen Juden. Andere, deren Familien erst nach dem Holocaust als displaced persons vielleicht aus Ungarn, aus Polen, aus Rumänien, hierhergekommen sind, die würden sich sicherlich nicht als deutsche Juden bezeichnen. Da saßen die Eltern sozusagen auf gepackten Koffern und wollten wieder weg aus Deutschland, sind sie dann vielleicht nicht. Bei den deutschen Juden war das schon anders, die sind hier geblieben, weil sie Hitlers Testament nicht erfüllen wollten."
Eine Generationenfrage? Nicht nur. Auch jüngere Juden haben zuweilen Scheu, sich als Deutsche zu bezeichnen. So wie Marina, eine 35-jährige Berlinerin. Die Jüdin ist noch erschüttert vom Sommer vergangenen Jahres, als es bei den bundesweiten propalästinensischen Demonstrationen immer wieder antijüdische Ausschreitungen gab. In Berlin wurden etwa Hass-Sprüche wie "Jude, Jude, feiges Schwein" gegrölt. Marina hat dabei Solidarität vermisst von den nichtjüdischen Berlinern. Kurzzeitig wollte sie sogar emigrieren – so wie rund 7000 französische Juden, die im vergangenen Jahr nach Israel gegangen sind. Und der Strom hält an, erst recht seit den jüngsten Anschlägen in Paris und Kopenhagen.
"Im Sommer muss ich sagen, habe ich mit dem Gedanken gespielt, eventuell aus Deutschland auszuwandern. Aber zu sehr habe ich mich mit der Frage dann doch nicht beschäftigt, weil ich immer noch an Deutschland glaube und dass Deutschland niemals wieder so was zulassen wird."
Experten gehen davon aus, dass künftig die Formulierung "deutsche Juden" eine Selbstverständlichkeit sein wird – auch wenn es einzelne Auswanderer gibt.
"Das hat‘s ja über die Jahrzehnte hinweg immer gegeben, eine gewisse Emigration von Juden aus Deutschland nach Israel. Allerdings die Abstimmung mit den Füßen in umgekehrter Richtung – also von Israel nach Deutschland – ist wesentlich größer."
Die jahrhundertealte Verunglimpfung der Juden, zudem die sprachliche Markierung als Untermenschen im Nationalsozialismus, der abfällige Sprachgebrauch auf Schulhöfen – und schließlich: die innerjüdischen Debatten und Verunsicherungen. Fachleute, wie Historiker Andreas Nachama, resümieren: Das Wort "Jude" bleibt in der deutschen Sprache aufgeladen, belastet.