Ohne Rabbiner und Klagemauer
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Die Karaiten lehnen nachbiblische Interpretationen der Thora ab. Für sie sind allein die geschriebenen Gebote ausschlaggebend. Sie werden in Israel anerkannt, gelangen aber aufgrund ihres Brauchtums mit vielen – zumeist Orthodoxen – in Konflikt.
In einem renovierten Gebäude in der Jerusalemer Altstadt läuft Shlomo Gaver, ein großer, schlanker Mann Mitte 50, die Treppenstufen hinab. An den purpurroten Wänden der fensterlosen Räume im Kellergeschoss hängen Bilder und Info-Tafeln. Auf Bildschirmen laufen kurze Videoclips. Religiöse Ausstellungsstücke, wie eine Thora Hülle aus Holz, liegen in Glaskästen. Es sieht aus wie ein jüdisches Museum – doch ganz so einfach ist die Sache nicht.
"Das hier ist das Heimatmuseum der jüdisch-karaitischen Gemeinde, die hier im Land Israel bereits im achten Jahrhundert nach der Zeitrechnung gelebt hat. Die ersten Karaiten kamen nach der Zerstörung des zweiten Tempels. Die karaitische Gemeinde ist eine der ältesten Gruppen, die die ältesten jüdischen Traditionen einhält, aus der Zeit des Zweiten Tempels, ohne jegliche Veränderungen der geschriebenen Torah. Die Karaiten akzeptieren die mündliche Thora nicht."
Rabbiner und ihre Interpretationen sind bedeutungslos
Shlomo Gaver ist selbst einer dieser Karaiten, auch Karäer genannt. Hier im Museum erfährt man über ihre Kultur und ihren Glauben. Karaiten gelten als Abweichler des rabbinischen Judentums. Der Talmud – wie generell alle von Rabbinern geschriebenen Texte, Kommentare und Interpretationen – sind für sie bedeutungslos. Rabbiner gibt es bei ihnen nicht.
"Die geistlichen Anführer der Gruppe heißen die "Weisen". Und deren Aufgabe ist es, zu führen. Aber sie diktieren den Menschen nicht, was sie zu tun haben. Am Ende ist es die Verantwortung des Einzelnen. Du kannst einen Weisen um Rat fragen. Aber letztlich trägst du selbst die Verantwortung: Du entscheidest, wie du den Rat interpretierst und wie du dich richtig verhältst."
Die Synagoge ist heilig, nicht die Klagemauer
Im Mainstream-Judentum ist die Rolle der Rabbiner hingegen wichtig. Sie haben das heutige Judentum so sehr geprägt, dass es sich auch rabbinisches Judentum nennt. Traditionell sind Rabbiner Gelehrte für religiöses Recht. Sie entscheiden, was dem jüdischen Gesetz entspricht und was nicht. Im orthodoxen Judentum geben sie den richtigen Weg vor. Nicht so bei den Karaiten. Die essen zwar beispielsweise ebenfalls koscher. Milchige und fleischige Speisen trennen sie allerdings nicht. Denn in der Torah heißt es dazu nur: "Du sollst ein Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen". Erst Rabbiner haben diesen Satz so interpretiert, dass Milch und Fleisch nicht zusammen gegessen werden dürfen. Unterschiede gibt es trotz der gemeinsamen Wurzeln viele: Auch die Klagemauer, ein Überbleibsel des Zweiten Tempels, hat für die Karaiten keine Bedeutung. Ganz anders die Synagogen. Im Museum zeigt Shlomo Gaver durch ein kleines Fenster in einen anderen Raum.
"Hier können wir die Synagoge sehen. Hier gibt es keine Stühle, man betritt sie ohne Schuhe. Die Synagoge ist ein heiliger Ort. In der Torah spricht Gott zu Mose: "Zieh deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden." Deshalb betreten wird diesen Ort ohne Schuhe."
Die Karaiten sind überzeugt, dass diese Synagoge im Erdgeschoss des heutigen Museums aus dem 8. Jahrhundert stammt und damit die älteste in der gesamten Altstadt ist. Eine Überlieferung – archäologisch bestätigt ist das nicht. Doch egal wie alt: Synagogen sind den Karaiten heilig. Frauen und Männer beten hier gemeinsam, anders als im orthodoxen Judentum. Beide Geschlechter haben sich an die gleichen Mitzwot zu halten. Die Karaiten betonen das Prinzip der Gleichberechtigung.
Der Bruch mit den Mainstream-Juden kam früh
Doch wie kam es zu dem Bruch zwischen karaitischem und rabbinischem Judentum? Eine Antwort auf diese Frage hat die Orientalistin Miriam Goldstein von der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sie hat sich intensiv mit den Karaiten auseinandergesetzt. Den Bruch datiert sie auf einen Zeitpunkt zwischen dem 8. und 9. Jahrhundert.
"Es gab jüdische Gemeinden, die verstreut in verschiedenen Gebieten lebten. Erst der Islam hat die Juden von Nordafrika bis in den Osten an die Grenzen zu Indien in einem Herrschaftsgebiet vereint. Plötzlich war eine Gruppe für alle Gemeinden verantwortlich: die Geonim in Bagdad. Sie mussten die Gemeinden nun vereinen. Wir haben einige Belege für dieses Bestreben. Ein Gebetbuch, das alle nutzen sollten. Auch im rechtlichen Bereich: Jeder sollte sein jüdisches Leben nach einheitlichen Regeln ausrichten."
Doch nicht alle hielten das für den richtigen Weg. Es gab zahlreiche Abweichler. Die Karaiten gehörten dazu.
"Offenbar eine sehr beliebte Gruppe in jener Zeit, die definitiv eine Gefahr für die Mehrheit des rabbinischen Judentums darstellte."
Ein paar Gelehrte für Jerusalem
Eine Gemeinsamkeit blieb bis heute erhalten: Die Bedeutung der Stadt Jerusalem. Die Orientalistin Miriam Goldstein erzählt von Daniel Alkumsi, der Überlieferung nach ein sehr charismatische Mann. Er habe einst den karaitischen Gemeinden im ganzen Nahen Osten geschrieben und sie aufgefordert, zumindest fünf Mitglieder ihrer Gemeinde nach Jerusalem zu schicken. Dort sollten sie in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends eine neue Gemeinde aufbauen.
"Er war damit sehr erfolgreich. Eine Gruppe von Gelehrten kam in Jerusalem zusammen. Wir wissen nicht, ob es sich um eine komplette Gemeinde handelte – aber auf jeden Fall kam eine Gruppe von Gelehrten nach Jerusalem, offensichtlich auf Daniel Alkumsis Geheiß hin. Und diese Gruppe florierte. Zwei Jahrhunderte lang, bis die Kreuzritter dann im Jahr 1099 ein Massaker an den Muslimen und Juden verübten."
Die meisten Karaiten leben heute in Israel. Nach Angaben der Gemeinde sind es 40.000. Außerhalb Israels gibt es Gemeinden in den USA, sowie vereinzelt in Ländern wie der Ukraine und Russland. Die ägyptischen Karaiten sind nach der Staatsgründung Israels wie die meisten Juden im Nahen Osten geflohen. Auch die Großeltern von Shlomo Gaver kamen aus Ägypten. Heute lebt er mit seiner Familie in Ramla, rund 20 Kilometer südöstlich von Tel Aviv. Seine Kinder gehen in staatliche Schulen und zur Armee, alle sind als jüdische Israelis anerkannt. Ab und an bekommen die Karaiten aber doch zu spüren, dass sie nicht ganz dazugehören – hauptsächlich von ultraorthodoxer Seite, wie Shlomo Gaver berichtet. Ein Streit hatte mit der Auffassung vom jüdischen Gesetz zu tun, der Halacha.
"Im Jahr 2014 hat das Rabbanut entschieden, dass Karaiten kein Geflügel schlachten dürfen. Die rabbinische und die karaitische Halacha unterscheiden sich, was das Schächten angeht. Und das Oberste Rabbanut Israels hat entschieden, den Karaiten nicht zu erlauben, in den privaten Schlachthöfen zu schlachten, die vom Rabbanut überwacht werden. Danach sind wir vor den Obersten Gerichtshof gezogen, und das hat entschieden, dass man die Karaiten dort schlachten lassen muss."
Seit mehr als einem Jahr haben die Karaiten außerdem Ärger mit ihrem Friedhof, der südwestlich der Altstadt liegt. Dort soll eine Seilbahn entstehen, die bis vor die Tore nahe der Klagemauer führt. Ein umstrittenes Projekt, auch bei den Karaiten. Denn die Bahn soll direkt über ihren Friedhof führen. Dieser ist Jahrhunderte alt, doch bis heute werden dort Tote bestattet. Die Karaiten sind wütend und wollen gegen die Seilbahn kämpfen. Sie wollen ihren Platz als jüdische Gemeinde in der heiligen Stadt behaupten.