Allein unter Antisemiten
Antijüdische Beleidigungen: An Schulen mit hohem Migrantenanteil gehören sie zum Umgangston. Viele Lehrer hören bei den Beschimpfungen weg, doch einige der Pädagogen können sie nicht einfach ignorieren - weil sie jüdisch sind.
Typische Entgleisungen von türkisch- und arabischstämmigen Schülern in einem Berliner Problemkiez:
"Also ich, ich kann überhaupt keine Juden leiden; egal, ob sie nett sind oder nicht nett sind; die sind einfach dreckig irgendwie." / "Ihnen gehört Marlboro, diese ganzen Zigaretten. Ihnen gehört McDonalds, den Juden gehört fast alles." / "Wenn ein Jude unsere Schule betritt, er wird dann, glaub ich, kaputtgeschlagen oder so; ich würde ihn auch kaputtschlagen. (Lacht) Juden sind Schwänze!" / "Ganz ehrlich – ich fick alle Juden! (Lachen)"
Pädagogen wissen: In Schulen mit einem hohem Migrantenanteil ist das Wort "Jude" mittlerweile ein gängiges Schimpfwort. Das bekommt auch Jael, eine jüdische Lehrerin aus Norddeutschland, täglich zu hören. Die 43-Jährige, die anonym bleiben möchte, unterrichtet an einer Gesamtschule:
"Eigentlich ist Jude ja kein Schimpfwort, sondern es kommt es kommt auf den Kontext an in dem Moment. Und es wird in der Absicht gesagt, jemanden zu beleidigen. So wie genau die gleichen Schüler auch zu jemandem sagen: Ey, du Schwuler, oder bist du schwul?- sagen sie eben auch du Jude, bist du ein Jude? Also im Sinne von: Du bist unehrlich, du bist verachtenswert, du bist hässlich, das ist das, was sie damit verbinden."
Die Religionszugehörigkeit wird verheimlicht
Kein Wunder, dass sich Jael in dieser Atmosphäre nicht traut, ihre Religionszugehörigkeit zu offenbaren:
"Die Schüler wissen nicht, dass ich jüdisch bin. Das ist eben so ein Teil, den ich sehr schwierig finde, dass ich eben nicht meinen Schülern einfach sagen kann: Ich bin jüdisch."
Jael, die Siebt- bis Zwölftklässler in Deutsch und Englisch unterrichtet, weiß, dass viele antisemitische Äußerungen nicht nur pubertäre Sprüche sind. So sagte ihr einmal ein afghanischstämmiger Oberstufenschüler ins Gesicht, wie sehr er alle Juden hasse:
"Also es war ein Schüler, der mir sagte: Wenn ich einen Juden sehe, den würde ich sofort umbringen. Und der das auch so meinte. Der war sehr ehrgeizig, der wollte ein gutes Abitur machen, ein sehr gutes, weil er Arzt werden wollte und nach Syrien gehen. Und wen flickt er dort zusammen? Ich möchte es gar nicht wissen!"
Was Lehrer erleben müssen, die sich offen zu ihrem Judentum bekennen, das kann Simone Behrend berichten. Die 49-Jährige, deren Name von der Redaktion geändert wurde, unterrichtet in Berlin das Fach Ethik:
"Also außerhalb der Schule stand, als ich nach Hause ging, eine Gruppe aus einer Klasse, dich ich unterrichtet habe, auf der einen Straßenseite und ich war die einzige Person, die in unmittelbarer Umgebung entlang ging. Und es wurde einfach „Du Jude, Du Jude!“ rüber gerufen."
Schmähungen unter der Gürtellinie
In einem anderen Fall musste die Pädagogin Schmähungen lesen, die buchstäblich unter die Gürtellinie gingen:
"Genitalien und das Wort Jude waren an die Tafel geschrieben und gemalt worden, nebeneinander. Und da war ein Zusammenhang hergestellt. In diesem Falle habe ich mich an die Klassenlehrerin natürlich und an die Schulleitung gewendet. Allerdings konnte – das war kurz vor den Ferien – hier angeblich kein Urheber mehr festgestellt werden."
Zusätzlich zu den persönlichen Angriffen hat sich Simone Behrend im Unterricht immer wieder mit antisemitischen Verschwörungstheorien und mit Israelhass herumzuschlagen. Doch spricht die Pädagogin diese Fehltritte im Lehrerzimmer an, erntet sie häufig Schweigen:
"Ja, man hört von den Anderen eben nichts, oder kaum etwas, dass da ähnliche Äußerungen, die ich wahrnehme, im Unterricht getroffen wurden. Und das finde ich seltsam."
Kein Rückhalt im Lehrerzimmer
Hannah Kushnir – ebenfalls eine jüdische Lehrerin, die anonym bleiben möchte – unterrichtet an derselben Berliner Sekundarschule. Die 32-Jährige hat in einem anderen Bundesland gearbeitet, bevor sie an die Spree kam:
"Und das Schlimme ist, dass man weder an dieser Schule noch an den anderen Schulen davor irgendeine Form von Rückhalt von den Kollegen bekommt. Dass man immer so da alleine steht und vor allen Dingen, wenn man denn irgendetwas initiiert, ist man sogleich der Judenbeauftragte. Und ich möchte auch nicht , nur weil ich schon wieder etwas sage, weil es mir auffällt, weil es die anderen vielleicht überhören, möchte ich auch nicht immer abgestempelt werden als: Ach jetzt kommt wieder die, die mit ihren Problemen!"
Keine Einzelfälle. Auch Jael, die jüdische Lehrerin aus Norddeutschland, stößt auf viel Reserviertheit bei ihren Kollegen, selbst bei der Schulleitung. Sogar wenn Jael konkrete antijüdische Vorfälle meldet:
"Das kann ich natürlich melden und dann wird einfach mit den Schultern gezuckt und gesagt: Überhör's einfach! Wir wollen dem nicht so viel Bedeutung beimessen. Aber ich glaube, dahinter steckt auch einfach eine Ratlosigkeit oder eine Hilflosigkeit, wie geht man damit um? Ich glaube, da ist auch ganz viel Bedarf an Fortbildung in der Richtung."
Statistische Ungereimtheiten bei der Senatsverwaltung
Wissen die Verantwortlichen in den Bildungsministerien von den Problemen? Beispiel Berlin. Hier gibt es nicht einmal eine Statistik über antisemitische Vorfälle an den Schulen. Zwar sollen die Direktoren alle Vorkommnisse nach oben melden. Doch bei der zuständigen Senatsverwaltung für Bildung landen pro Jahr lediglich sechs bis acht antisemitische Fälle – bei rund 330.000 Schülern in Berlin. Insider vermuten, dass sich die Schulleitungen das Formular-Ausfüllen lieber sparen und zudem Angst vor einem Imageverlust ihrer Einrichtung haben.
Zweites Problem: Werden schon mal antisemitische Vorkommnisse gemeldet, landen sie in der Senats-Statistik in der Rubrik "Gewaltmeldungen", Unterpunkt "verfassungsfeindliche Äußerungen". Also zusammen mit beispielsweise allgemein rechtsradikalen Entgleisungen. Antisemitische Tendenzen sind so nicht analysierbar.
Reinhold Reitschuster von der Berliner Senatsverwaltung für Bildung rechtfertigt jedoch die pauschale Erhebung:
"Allgemein ist es kein Geheimnis, dass es solche Vorkommnisse natürlich gibt: Du Jude, Du Opfer oder ähnliches. Das immer zu quantifizieren, in welchem Zusammenhang das stattgefunden hat: Ist das jetzt eine rechtsextremistische Äußerung, ist das eine antisemitische, hat das was mit dem Nahostkonflikt zu tun oder der Zusammenhang, das macht es auf jeden Fall schwer so trennscharf das einzuordnen."
Tatsächliches Ausmaß unbekannt
Der Referent gesteht: Sein Ministerium wisse nicht, wie das tatsächliche Ausmaß antisemitischer Vorfälle an Berliner Schulen ist:
"Ich vermute mal, dass die Dunkelziffer höher ist als die Zahlen, die wir bekommen."
Reitschuster beteuert, man habe allerdings das gesellschaftliche Problem erkannt. Man kenne auch wissenschaftlichen Untersuchungen, wonach - in der Bevölkerung - jeder Fünfte latent antisemitisch ist:
"Dieser Herausforderung, diese gesellschaftlichen Herausforderung stellen wir uns, weil wir auch davon ausgehen, dass in der Schule sich gesellschaftliche Tendenzen auch abzeichnen. Ob wir die jetzt im Detail an einzelnen Zahlen belegen können oder nicht, sei dahingestellt."
Laut der Berliner Senatsverwaltung für Bildung wird das Thema Judenhass in der Lehrerausbildung – wie auch in der Lehrerfortbildung behandelt. Zudem gebe es viele schulische Projekte gegen Antisemitismus.
Defizite in der Lehrerausbilung
Jüdische Lehrerinnen, wie Hannah Kushnir, widersprechen: In der Ausbildung werde nicht genug getan. Bei ihrem eigenen Referendariat vor acht Jahren etwa habe man die Judenfeindschaft nur kurz gestreift:
"Da gab es schon so eine Art Einheit zu verfassungsfeindlichen Symbolen, also die 88 oder HH oder was weiß ich. Aber das war alles die nationalsozialistische Ecke oder neonazistische Ecke. Aber null diese muslimische Schiene."
Auch externe Bildungs-Fachleute beklagen ein Aufklärungs-Defizit. So wie Ahmad Mansour, ein Psychologe vom Berliner Zentrum Demokratische Kultur. Nach Angaben des gebürtigen Arabers haben die meisten Lehrer Angst davor, mit Migrantenkindern zu diskutieren – vor allem über Israel:
"Wie oft wird über Nahostkonflikt gesprochen? Wie oft wird Biografie-Arbeit geleistet? Dass die Jugendlichen sagen, woher sie kommen. Was sie erlebt haben, was ihre Eltern erlebt haben? Auch Menschen, die vielleicht persönlich oder indirekt traumatisiert durch den Krieg in Gaza oder andere Kriege, die im Nahen Osten stattgefunden haben. Das muss Teil dieser pädagogischen Konzepte sein, wo alle angesprochen werden."
Outing kann sich lohnen
Regelmäßige antisemitische Entgleisungen. Hilflose Lehrer. Und jüdische Kollegen, die Alarm schlagen. Es gibt aber auch Ausnahmen. Lea Feynberg gehört auch zu den wenigen jüdischen Lehrerinnen in Deutschland, die an Regelschulen unterrichten. Die 34-Jährige, die ebenfalls unter einem Pseudonym auftritt, hat sich vor ihren Schülern immer als Jüdin geoutet:
"Ich habe überwiegend positive Erfahrungen gemacht. Wir haben einen sehr tollen Austausch. Meine Schüler fragen mich: Wie ist es, koschere Gummibärchen zu essen? Und ich frage sie: Was ist denn halal? Und wir profitieren beide sehr davon. Im ersten Moment ist es so: Oh, krass, Jude! Weil sie haben vorher noch nie einen Juden gesehen!"
Feynberg, die in Norddeutschland lebt, hat bis vor einem Jahr in einem Berliner Migrantenkiez unterrichtet. Darüber hat sie ein Buch geschrieben – mit dem Titel: "Ich werd sowieso Rapper". Darin berichtet die Pädagogin auch von ihren Erfolgen bei den arabisch- und türkischstämmigen Teenagern:
"Als Abdul zu mir kam und sagte: Ich war gestern mit meinen Jungs unterwegs und die haben so geschrien: Du Jude, du Jude! Und dann habe ich denen gesagt: Meine Lehrerin ist Jude und die ist voll nett! Und man soll nicht Jude sagen als Beleidigung. Und dann sagte ich so: Du hast mir den Tag versüßt, toll! Und er hat sich auch total gefreut und war total stolz, dass er mir jetzt sagen kann: Ne, es gibt auch nette Juden, so nach dem Motto. Im Großen und Ganzen, finde ich, dass ich unheimlich viel auf dieser Ebene erreiche."
Die Kollegen müssten mitziehen
Allerdings hinge viel von der Unterstützung durch die Lehrerkollegen ab, betont Lea Feynberg. Andere jüdische Pädagogen fühlen sich hingegen allein gelassen - auch von der Öffentlichkeit. So wie Hannah Kushnir. Die 32-jährige Berlinerin hat im vergangenen Herbst einen Brandbrief an mehrere Zeitungen und Politiker verschickt zum migrantischen Antisemitismus an den Schulen. Die Jüdin bilanziert enttäuscht, kein Redakteur und kein Politiker habe ihr geantwortet:
"Sie haben keine Ahnung, wie es hier wirklich aussieht, was auf der Straße sozusagen wirklich abgeht und ich hatte das dringende Bedürfnis, denen das mal mitzuteilen. Aber ich habe den Eindruck, es hat niemanden interessiert."