Arm im Alter
09:30 Minuten
Bis 2004 hat die Bundesrepublik die Türen weit aufgemacht für jüdische Zuwanderer aus Staaten der früheren Sowjetunion. Zehntausende konnten nach Deutschland kommen. Heute leben viele von ihnen in Altersarmut.
Alexander Shcherbatov, mit seinen 66 Jahren eigentlich Rentner, sitzt im Wohnzimmer seiner Wohnung am Kölner Stadtrand. Seine Rente ist so gering, dass er weiterhin arbeitet. Er erzählt, wie er nach Deutschland gekommen ist und Fuß fassen wollte.
Es geht ums Berufsleben und um Rentenansprüche – vor allem aber geht es um Hoffnung und Enttäuschung. "Ich bin 1998 nach Deutschland gekommen", erzählt Alexander Shcherbatov, "als jüdischer Migrant. Wir waren erst mal in einem Lager. Danach sind wir nach Köln gekommen. Und dann fing unser Leben in Deutschland an."
Am Esstisch sitzen auch Alexanders Frau Stella und sein Bruder Zakhar. Zakhar ist ebenfalls Rentner, ledig, wohnt um die Ecke. Die Familie kommt Ende der 90er-Jahre. Als jüdische Kontingentflüchtlinge können sie ohne Asylverfahren unbefristet in Deutschland bleiben.
Hier angekommen, will der 44-jährige Alexander Shcherbatov an sein Berufsleben anknüpfen: Bauingenieur war er in Russland. Doch sein Diplom wird nicht anerkannt. Er findet Arbeit, als Wachmann in einer Sicherheitsfirma.
Seinem Bruder Zakhar ergeht es ähnlich. Zakhar Shcherbatov berichtet: "Sie sagten 43 Jahre? Das ist zu viel. Ich versuchte eine Ausbildung oder Umschulung zu machen." Eine feste Anstellung bekommt er nicht, er hangelt sich von Job zu Job:
"Altenheim-Haustechniker, Jugendzentrum-Haustechniker, Gartenarbeit." Dadurch konnte Zakhar kaum in die Rentenversicherung einzahlen und ist heute auf Grundsicherung angewiesen.
250 Euro Rentenanspruch
Alexander Shcherbatov rechnet vor: "In Deutschland habe ich 15 Jahre Dienstalter, und was habe ich verdient? 250 Euro Rente. Natürlich reicht das nicht. Deshalb mache ich meinen Job weiter."
Alexander arbeitet in Teilzeit. Auf die Grundsicherung hat er keinen Anspruch, weil seine Frau noch arbeitet. Stella Shcherbatova, ein Jahrzehnt jünger als er, ist bei der Stadt angestellt; sie hilft Betroffenen von Antisemitismus.
Und sie hilft auch ein bisschen bei der Übersetzung, als ihr Schwager Zakhar von seiner Situation erzählt. Denn auch er steht vor finanziellen Problemen. Als er 60 wurde, hat er die russische Rente beantragt.
"Damit haben seine Probleme angefangen", sagt Stella Shcherbatova. "Die Rente wird zunächst auf die Grundsicherung angerechnet – doch Zakhar kommt gar nicht an das Geld. Sein Bruder Alexander bezieht knapp 100 Euro Rente aus Russland, aber für Zakhar ist es fast unmöglich, an das Geld zu kommen."
In Deutschland kann er es nirgendwo abheben, denn die russische Regierung hat die Rentenexporte 2015 gestoppt. Alexander hatte sie vorher beantragt – Zakhar soll sie nun in Russland abheben.
Zakhar flog schlussendlich nach Russland; Stella Shcherbatova hat sich mit darum gekümmert. Viele jüdische Kontingentflüchtlinge haben finanzielle Probleme im Alter und sind auf Grundsicherung angewiesen. 30 Jahre ist die erste Migration nun her, und noch immer steht das Thema auf der politischen Agenda.
Die Oppositionsfraktionen FDP, Linke und Bündnis 90/Die Grünen stellten 2019 einen Antrag. Darin forderten sie eine schnelle Lösung: Entweder eine Anpassung des Rentengesetzes, Sozialversicherungsabkommen mit den Herkunftsstaaten, oder eine Härtefallregelung.
Koalition will Einmalzahlung
Parallel zu diesem Antrag arbeitet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bereits an einem Härtefallfonds. Der soll für ehemalige DDR-Bürger eingeführt werden, so steht es im Koalitionsvertrag. Darin heißt es, das Ergebnis solle auch für Spätaussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge geprüft werden.
SPD-Bundestagsabgeordnete Kerstin Griese findet, der Härtefallfonds müsse unbedingt auch für die jüdischen Kontingentflüchtlinge gelten. "Genau das haben wir jetzt gemacht", sagt Griese, "wir haben uns sehr intensiv damit beschäftigt, wie man eine Lösung finden kann."
Der Antrag der Opposition wurde damals abgelehnt, die Vorschläge seien nicht umsetzbar, fanden die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD. Es gab zwar eine Anhörung im April, aber die Bundesregierung sei bereits mit den Ländern im Gespräch und arbeite an dem Härtefallfonds.
In einem parallelen Prozess seien sie an Sozialversicherungsabkommen dran, so Griese. Mit diesem Instrument werden die Arbeitsjahre vor der Emigration angerechnet. Mit der Ukraine sei schon ein Abkommen vereinbart, das müsse die ukrainische Regierung noch unterzeichnen. Mit Russland hingegen stünden die Verhandlungen still.
Dass die außenpolitische Lage mit Russland komplex ist, wird an Zakhar Shcherbatovs Fall sehr deutlich. Er hat Anspruch auf eine Rente – knapp 120 Euro – doch er kommt nicht an das Geld, weil die Regierung keine Rentenexporte mehr genehmigt. Vor ein paar Jahren flog er schließlich nach St. Petersburg, um dort das Geld abzuheben.
Aber auch das war nicht so leicht, erzählt seine Schwägerin Stella Shcherbatova. "Um die Kreditkarte zu bekommen, musste er einen Wohnsitz in Russland haben. Um diesen Wohnsitz zu kriegen, müsste er sechs Monate in Russland bleiben. Das war so kompliziert alles!"
Rente auf dem russischen Konto
Die Rente fließt immer noch auf das russische Konto, wo Zakhar Shcherbatov sie jedes Jahr persönlich abholen müsste. Das Ganze war so kompliziert, dass er eine Anwältin eingeschaltet hat. Jetzt wird die russische Rente nicht mehr auf die Grundsicherung angerechnet. Für Zakhar Shcherbatov ist das erst einmal eine Erleichterung.
Von ähnlichen Fällen, von Menschen, die im Alter wenig Geld haben oder die auf Grundsicherung angewiesen sind, hört Abraham Lehrer immer wieder. Abraham Lehrer ist Vorsitzender der Synagogen-Gemeinde Köln und Präsident der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und Vizepräsident des Zentralrats der Juden.
Gemeindemitglieder kämen mit ihren Geschichten zu ihm, da seien "wirkliche Härtefälle" dabei. "Manchmal kann man intervenieren, man kann versuchen zu helfen, aber Sie können die Systematik auch nicht auf den Kopf stellen."
Abraham Lehrer ist auch mit dem Arbeitsministerium im Gespräch darüber, wie eine Lösung für die finanziellen Probleme jüdischer Zuwanderer aussehen könnte. "Um das alles ein bisschen zu verorten, um zu schauen, wie man eine Fondslösung realisieren kann zum Beispiel. Am Anfang haben wir versucht, etwas Weitergehendes zu verhandeln – aber da muss man ehrlich sagen: Das ist uns nicht gelungen."
Zehntausende leben von Grundsicherung
Der Zentralrat der Juden schätzt, dass von 220.000 Zuwanderern etwa 60-70.000 von Grundsicherung leben. Abraham Lehrer sagt, die Grundsicherung fange die Menschen im Alter auf, trotzdem fühlten sich viele ungerecht behandelt, weil sie schon vor der Emigration gearbeitet haben und sich deshalb eine bessere Rente wünschten. Wenig Geld und Hilfe vom Staat – für viele ist das ein Stigma.
Die Anpassung des Rentengesetzes scheint vom Tisch zu sein. Das bedeutet auch: Eine Erhöhung der monatlichen Renten wird es wohl nicht geben. Nun geht es wohl hauptsächlich um die Fondslösung. Damit könnten jüdische Kontingentflüchtlinge, die von Grundsicherung leben, immerhin eine einmalige Zahlung erhalten.
Kerstin Griese sagt zum Stand der Dinge: "In dem Entwurf für Eckpunkte, den die Bundesregierung abgestimmt hat und den wir zurzeit mit den Ländern diskutieren, steht dort die Zahl X, weil das natürlich davon abhängt, wie viel die Länder bereit sind zu zahlen. Und deshalb sind wir da in intensiven Gesprächen."
Wann Einigung kommt, ist unklar
Die Zahl X. Es geht um eine noch unbekannte Summe für jüdische Kontingentflüchtlinge, Spätaussiedler und ehemalige DDR-Bürger. Im Ausschuss schlug der Zentralrat der Juden einen Betrag von 10.000 Euro vor. "Ein vernünftiger Betrag, damit diese Einmallösung wirklich eine Chance hat zu wirken", findet Abraham Lehrer.
Der Betrag X könnte aber auch darunter liegen. Griese erwähnt eine mögliche Spannbreite, orientiert an anderen Härtefallzahlungen: von 2500 bis 10.000 Euro. Fest steht: Die Hälfte des Fonds müssen die Länder übernehmen. Wann es zu einem Entschluss kommt, ist noch nicht klar. Griese hofft, dass Bund und Länder sich noch vor der Bundestagswahl einigen. Und dann müsse erst mal erhoben werden, wer überhaupt Anspruch hätte.
Alexander Shcherbatov wird vielleicht keinen Anspruch haben, weil er keine Grundsicherung bekommt. Dennoch hoffet er auf eine zügige Regelung – auch für seinen Bruder, dem das zusätzliche Geld helfen könnte. "Wir warten auf bessere und schönere Tage", sagt Alexander Shcherbatov, "auf eine bessere Entscheidung der Regierung." Dann lacht er etwas verbittert.