Jüdischer Blick aufs Neue Testament

Mit antijüdischen Deutungen aufräumen

Von Gerald Beyrodt |
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Das jüdisch-christliche Verhältnis ist von vielen Vorurteilen belastet und manche gehen auf ein falsches Verständnis des Neuen Testaments zurück. Ein neues Buch erklärt nun diesen christlichen Grundlagentext aus jüdischer Sicht.
Es war die Zeit eines großen Streits zwischen verschiedenen jüdischen Gruppen: den Anhängern Jesu Christi und denen, die mit Jesus Christus nichts am Hut hatten. Es war die Zeit eines Risses zwischen Christusgläubigen und den anderen – ein Riss, der zur Spaltung wurde und schließlich zwei Religionen hervorbrachte: die christliche und die jüdische. Und es war die Zeit großer Polemiken. In dieser Situation sind die Schriften des Neuen Testaments entstanden, etwa vom Jahr 60 bis etwa 120 nach Beginn der allgemeinen Zeitrechnung.

Aus der Rivalität entstanden

Vieles hat man später als eine Abrechnung mit den Juden verstanden. Dabei war es möglicherweise ein Streit zwischen rivalisierenden Gruppen, die sich sehr nahe waren. Dieses Verhältnis wollen die jüdischen Autorinnen und Autoren von „Das Neue Testament jüdisch erklärt“ entwirren – mit detaillierten Kommentaren zu den Evangelien, Briefen und sonstigen Texten. Die Herausgeberin Amy-Jill Levine und der Herausgeber Marc-Zvi Brettler der englischen Originalausgabe schreiben in der Einleitung zum Matthäus-Evangelium:

Ob die Evangelien an und für sich schon antijüdisch waren, bleibt Gegenstand lebendiger Diskussionen; was wir aber mit Sicherheit sagen können, ist, dass sie von Christen bald antijüdisch interpretiert wurden.

Amy-Jill Levine und Marc-Zvi Brettler

Polemik gegen Nahestehende

Die christliche Bewegung sei aus dem antiken Judentum entstanden, sagt Wolfgang Kraus, einer der deutschen Herausgeber des Buches. Er ist Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes. Die Polemik gegen jüdische Gruppen sei oft besonders scharf, wenn die Nähe besonders groß sei:
„Um die eigene Identität zu schärfen, gab es natürlich auch Abgrenzung. Da kann natürlich die Polemik sehr scharf sein. Und es ist auch bewusst im Matthäusevangelium so gemacht. Matthäus will zeigen, dass seine Gemeinde die eigentlichen Fortsetzer der Tradition Israels ist.“
Die Pharisäer waren eine wichtige jüdische Laienbewegung zur Zeit Jesu. Aus ihrer Mitte ist das spätere rabbinische Judentum entstanden und damit die Schriften, die für Jüdinnen und Juden heute maßgeblich sind: die Mischna und der Talmud.
Obwohl Jesus den Pharisäern vermutlich nahestand, erscheinen sie im Neuen Testament oft als Karikatur: Jesus wirft ihnen vor, sie seien eitel und geckenhaft – es gehe ihnen nur um das eigene Ansehen. Er beschimpft sie zudem als Heuchler und als Führer, die selber blind sind.

Keine Abschaffung, sondern eine Verschärfung

Ein Kerntext des gesamten Christentums ist die Bergpredigt im Matthäusevangelium. Oft hat man sie als Abrechnung mit dem Judentum gelesen wegen der sogenannten Antithesen: „Ihr habt gehört, dass… Ich aber sage Euch“:

Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: „Du sollst nicht töten“; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: „Du Nichtsnutz“, der ist des Hohen Rates schuldig, wer aber sagt: „Du Narr!“, der ist des höllischen Feuers schuldig.

(Matthäus 5, 21 ff.)

Früher meinten christliche Wissenschaftler, Jesus wolle mit solchen Äußerungen die Gebote der Tora aus den Angeln heben. Gegen diese Sichtweise spricht schon, dass Jesus zuvor erklärt, er wolle die Propheten und das Gesetz nicht auflösen, sondern erfüllen. Wolfgang Kraus erklärt: „Die Meinung der heutigen Ausleger ist, dass also die Bergpredigt so verstanden werden muss, dass das im Grunde Verschärfungen sind.“
Die jüdischen Kommentatoren des neuen Buches weisen auf ein jüdisches Auslegungsprinzip hin. Es heißt: der Zaun um die Tora. Das bedeutet: die Regel im Zweifel ein bisschen strenger befolgen. Das stellt sicher, dass man sie nicht verletzt. So sei es zu verstehen, wenn Jesus im Matthäusevangelium nicht nur das Töten, sondern sogar noch den Zorn unter Strafe stellt. Das Prinzip des Zaunes um die Tora ist bis heute für das Judentum wichtig – ganz besonders im orthodoxen Judentum. Viele orthodoxe meiden am Schabbat nicht nur elektrischen Strom, sondern würden auch kein Telefon anfassen.

Jesus war kein Feminist

Sehr lesenswert sind auch über 50 Essays zum Judentum zur Zeit Jesu, zur jüdischen Geschichte und zu aktuellen Problemen. Die Herausgeberin Amy-Jill Levine hat ihren Text über Irrtümer zum antiken Judentum mit dem Titel versehen: „Falsches Zeugnis geben“. Darin rechnet sie unter anderem mit Teilen der christlichen feministischen Theologie ab:

Der vierte Irrtum besteht in der Meinung, das antike Judentum verkörpere Frauenfeindlichkeit, und Jesus habe Frauen von diesem unterdrückerischen System befreit. Die Vorstellung eines „feministischen“ Jesus inmitten eines rückwärtsgewandten Judentums dient mehreren Zwecken. Weil Jesus nicht proaktiv für Frauen eingetreten ist (er hat zum Beispiel keine Frauen unter die Zwölf Apostel benannt; bei der Verklärung, dem Letzten Abendmahl oder in Gethsemane wird die Anwesenheit von Frauen nicht ausdrücklich erwähnt), kann jede Interaktion zwischen Jesus und einer Frau als fortschrittlich dargestellt werden, wenn man jüdische Frauen auf die Rolle von Eigentum reduzieren kann.

Amy-Jill Levine

Zitate aus dem Kontext gerissen
Für ihre Thesen geben die christlichen Feministinnen durchaus Quellen an. Doch Amy-Jill Levine wirft ihnen vor: Sie gingen unseriös mit den spätantiken Texten um.

Um die Behauptung zu belegen, dass das Judentum Frauen unterdrücke, führten manche christliche Kommentatoren dann äußerst selektive Zitate aus der rabbinischen Literatur an, rissen sie aus ihrem historischen und literarischen Kontext heraus und erklärten sie als normativ für die Zeit des Zweiten Tempels. In diesem Prozess übersprangen sie interne rabbinische Diskussionen gänzlich, unterschieden nicht zwischen vorschreibenden und beschreibenden Aussagen, also dem, was der Meinung eines Rabbis nach geschehen sollte, und dem, was de facto geschah, und ließen wichtige rabbinische Gegenbeispiele außer Acht.

Amy-Jill Levine

Das Beispiel zeigt: Ungewollt oder gewollt judenfeindliche Interpretationen des Neuen Testaments sind kein Problem von gestern. Die Versuchung, das Christentum auf Kosten des Judentums zu profilieren, besteht bis heute. Gut, dass die Deutsche Bibelgesellschaft dieses wichtige Buch auf den deutschen Markt gebracht hat.

Buchhinweis:
Das Neue Testament jüdisch erklärt
Hg.: Amy-Jill Levine, Marc Zvi Brettler, Wolfgang Kraus, Michael Tilly und Axel Töllner
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2021
984 Seiten, 53 Euro

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