Ein Brückenbauer und Handausstrecker
Ernst Simon verließ Berlin als 29-Jähriger und ging nach Palästina. Der Reformpädagoge wurde später Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Welche Rolle spielt er heute noch in der modernen jüdischen Kindererziehung?
Ernst Akiba Simon wird 1899 in ein jüdisch-säkulares Elternhaus in Berlin hineingeboren. 1928, da ist er gerade 29 Jahre alt, wandert er nach Palästina aus. In 60 Jahren unermüdlichen Schaffens wird er zu einem der bedeutenden Reformpädagogen und Religionsphilosophen des jungen Staates Israel.
Ist Simon für eine jüdische religiöse Erziehung heute noch für uns relevant?
"Da bin ich mir nicht so sicher und zwar aus zwei Gründen. Erstens war er jemand, der sich in erster Linie für Fragen der Erwachsenenbildung interessiert hat und zweitens sind seine Einsichten und Überzeugungen stark zeitgebunden. Man versteht sie nicht ohne die bedrängte Lage des deutschen Judentums in den 1930er-Jahren."
Micha Brumlik, Senior Fellow am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien in Berlin, wurde in der Schweiz geboren, wo seine Eltern während der Nazi-Zeit Zuflucht fanden. Der spätere Erziehungswissenschaftler kam 1952 als Fünfjähriger mit ihnen zurück nach Deutschland. Wie ging es damals zu Hause in Frankfurt zu? Hatte er eine streng religiöse Erziehung?
"Na, so konventionell. Also meine Eltern haben immer die Feste gefeiert, wir hatten keinen koscheren Haushalt, aber zu den hohen Feiertagen ist man in die Synagoge gegangen."
Micha Brumlik spricht von sich selber als häufigem, aber unregelmäßigen Synagogengänger:
"Als ich 14, 15 war, hatte ich einen religiösen Schub und da habe ich dann meine Eltern für vier Jahre gezwungen, den Haushalt koscher zu führen. Das hat sich dann später wieder gelegt."
Simon entschied sich für den Zionismus
Mit seiner nicht-jüdischen Frau feiert er daheim den Schabbat. Ihr Sohn wuchs zwar mit den religiösen Traditionen auf, ist aber nicht in der Gemeinde.
Ernst Simon mit seinem assimilierten Elternhaus entschied sich auf seinem Lebensweg für den Zionismus und – die Halacha. Religion und liberales Denken.
Anja Siegemund: "Bei Simon auf ganz spezifische Weise. Dafür stand auch das Frankfurter Jüdische Lehrhaus, das Freie Jüdische Lehrhaus, das sich als jüdisch in mehrfachem Sinne verstand, denn es wollte so wenig wie möglich von oben herab lehren, vielmehr die Lernenden am Erkenntnisprozess teilhaben lassen und damit an traditionelles jüdisches Leben anknüpfen."
Der damals 23-Jährige sammelt in dem 1920 gegründeten Erwachsenen-Bildungsinstitut seine ersten Lehrerfahrungen. Später in Palästina wird Simon zunächst Dozent und, nach seiner 1949 in Hebräisch verfassten Habilitation, Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sie wird ihm zur geistigen Heimat.
Fundamentale gegen säkulare Positionen
Anja Siegemund vom Centrum Judaicum Berlin moderierte vor kürzerem eine abendliche Podiumsdiskussion zur Religiösen Erziehung. Sie fand anlässlich eines Forschungs-Symposions über Ernst Simon statt. Mit dabei war Doron Kiesel. Der Direktor der Bildungsabteilung beim Zentralrat der Juden in Deutschland ging während der Diskussion im Berliner Jüdischen Museum auch auf die aktuelle Situation der religiösen Erziehung in der Bundesrepublik ein:
"Wenn es darum geht, Kindern oder Jugendlichen zu vermitteln, welche Bedeutung religiöse Erziehung für sie haben kann, dann ist es sehr schwierig, wenn sich auf der einen Seite fundamental-theologische Positionen durchsetzen und auf der anderen Seite sehr säkulare, in Abgrenzung zu jedem religiösen Denken auch, Positionen auftun, die gewissermaßen dann in ein Lagerdenken hineinscheinen."
Doron Kiesel spricht ebenfalls die momentanen antisemitischen Konflikte in den Schulen an, die sich eben nicht mit entschuldigenden Worten wegreden lassen.
Nach der Diskussion stehen wir noch bei einem Glas Wein zusammen.
"Was der Zentralrat leisten kann, ist es, immer wieder die hier Lehrenden zu versammeln, um gemeinsam zu eruieren, welche Themen als Schwerpunkte jüdischer Erziehung hier vorangetrieben werden sollen, in Punkto Religion, in Punkto Interkulturalität oder interreligiöse Erziehung."
Das Centrum Judaicum versteht sich in erster Linie als kulturelle Institution mit religionsübergreifendem Bildungsprogramm, denn es gehört nicht zur Jüdischen Gemeinde, klärt Direktorin Anja Siegemund auf. Sie stammt aus der Nähe von München und hat lange Jahre in Israel gelebt, bevor sie nach Berlin kam. Was ist ihr besonders wichtig in Bezug auf eine religiöse Erziehung?
"Mir ist wichtig, dass mein Sohn Tradition kennt, Tradition mitlebt. Aber ich merke auch das so, zu sehr darf ich ihn nicht damit überfrachten und das Praktische in den Synagogen ist, die wissen das eigentlich alle. Die Kinder, zumindest in seinem Alter noch, die werden dann nach einem bestimmten Lied, zum Beispiel am Freitagabend 'Lecha dodi' und wie sagt der Rabbiner nun? -'Auszug der Kinder Israel'- und dann gehen sie und machen was Anderes, zumindest in unserer liberalen Synagoge. Zumindest in unserer progressiven, liberalen Synagoge, da dürfen die dann irgendwie basteln, aber man führt die Kinder ran!"
Zum Judentum gehört das Hebräische
Doron Kiesel ergänzt, dass eine Jüdische Schule, wie in Frankfurt oder Berlin, den Kindern hilft, jüdische Kultur, jüdische Freunde kennenzulernen und einen intellektuellen wie emotionalen Austausch zu erleben, den sie ansonsten in Deutschland nicht bekommen können.
"Ich bin davon überzeugt, dass sozusagen zum Judentum auch das Hebräische gehört, ob säkulares oder religiöses Judentum. Das sage ich nicht nur, weil ich selber aus Israel komme und mit meinen Kindern Hebräisch rede, sondern weil ich glaube, es gehört einfach dazu."
Bis zu seinem zehnten Lebensjahr wuchs Kiesel in Israel auf, nachdem seine Eltern noch als Kinder vor den Nazis nach Palästina fliehen mussten. Später kehrten sie nach Deutschland zurück:
"Meine Eltern sind keine regelmäßigen Synagogengeher gewesen. Ich bin erst über die Kinder stärker in den synagogalen Kontext eingestiegen. Mir und meiner Frau war es wichtig, dass die Kinder eine Orientierung haben und da war es klar, der religiöse Ort ist die Synagoge, es war gewissermaßen fast selbstverständlich."
Kiesel hat einen 18-jährigen Sohn und eine 16-jährige Tochter. Anja Siegemunds Sohn ist elf Jahre. Sie stammt aus einer weitverzweigten, mehrsprachigen Familie. Mit mehreren Konfessionen wie beim eingangs gehörten Micha Brumlik?
"Nein, nein, mit einer Religion, die sicher immer verschieden gelebt wird. Aber sogar mein israelischer, sehr säkularer Partner macht hier etwas sehr Typisches. Nämlich als Israeli geht er jetzt viel in die Synagoge. Israelis entdecken dann Synagogen, vielleicht auch noch mal die Religion, aber ich glaube, auch eher die Zugehörigkeit neu, wenn sie nicht in Israel sind."
"Nicht nur gedacht, auch gemacht"
Hat Ernst Simon als ein Mensch, der immer den interreligiösen und interkulturellen Dialog suchte, ob in Israel oder auf seinen Reisen in Europa und den USA, hat er für sie beide persönlich noch eine Bedeutung?
Doron Kiesel: "Er ist auch immer noch der Wegbereiter eines modernen, reflektierten, mündigen Judentums und insofern halte ich sein Leben gewissermaßen auch ein Stück weit als Vorbild für viele von uns."
Anja Siegemund: "Simon als wirklich der Brückenbauer und der Handausstrecker und das hat er sein Leben lang gelebt und gemacht. Beides, nicht nur gedacht, auch gemacht."