Till Van Rahden: „Vielheit. Jüdische Geschichte und die Ambivalenzen des Universalismus“
Hamburger Edition 2022
224 Seiten, 30 Euro
Jüdisches Denken
Verschiedenheit wurde im 19. Jahrhundert nicht als Minderheitenproblem diskutiert, sondern als Frage individueller Freiheitsrechte, sagt Historiker Till van Rahden. © Getty Images / iStockphoto / valeo5
Gleichheit und Verschiedenheit versöhnen
25:46 Minuten
Bei kultureller Verschiedenheit denken wir meist an „Minderheiten“ – der Historiker Till van Rahden zeigt in seinem Buch über jüdisches Denken, warum Verschiedenheit im Zentrum liberaler Gesellschaften steht.
Wenn es um die Rechte oder die Diskriminierung gesellschaftlicher Gruppen geht – ob Migrantinnen, Juden oder Frauen – dann sprechen wir meist von „Minderheiten“, die wir der „Mehrheit“ gegenüberstellen. Das zeigt etwa die Rede von „Minderheitenrechten“, oder der Begriff der „Minderheitenforschung“.
Was für uns heute selbstverständlich ist, wäre noch vor 150 Jahren völlig abwegig gewesen, wie der Historiker Till van Rahden in seinem Buch „Vielheit“ zeigt. Darin beschreibt er Debatten über kulturelle Gleichheit und Verschiedenheit im 19. Jahrhundert, die maßgeblich von jüdischen Intellektuellen geprägt wurden, was unter anderem damit zu tun hat, dass Jüdinnen und Juden selbst lange als das „andere“ der europäischen Gesellschaften galten. Van Rahden zeigt Schnittmengen mit gegenwärtigen Debatten auf, aber auch blinde Flecken unseres heutigen Denkens über Vielfalt.
Verschiedenheit im Zentrum – nicht am Rand
So suggeriert etwa das Sprechen von kulturellen „Minderheiten“, Verschiedenheit sei eine Sache, die von den Rändern der Gesellschaft komme, sagt van Rahden. Dagegen betont er, „dass im Zentrum der liberalen Demokratie ja individuelle Freiheitsrechte stehen–und die laufen im Kern darauf hinaus, dass wir ohne Angst verschieden sein können. Das heißt, die moralischen Konflikte, mit denen wir leben, entstehen nicht am Rand der Gesellschaft, sondern die stehen im Zentrum der Gesellschaft“.
Individuelle Freiheitsrechte waren auch die Grundlage für das Nachdenken über kulturelle Verschiedenheit, bevor sich das Begriffspaar von Mehrheit und Minderheit Anfang des 20. Jahrhunderts durchsetzte. Davon könnten wir heute etwas lernen, so van Rahden: Statt Freiheit und Gleichheit, Individuum und Gemeinschaft als unversöhnliche Pole gegenüberzustellen, sollten wir uns fragen, wie sie aufeinander bezogen seien – und erkennen, „dass zu den individuellen Freiheitsrechten eben auch gehört, dass wir uns zu einer bestimmten Gemeinschaft zugehörig empfinden können“.
Schnittmengen mit dem Feminismus
Im Gespräch geht van Rahden außerdem darauf ein, dass jüdische und afroamerikanische Intellektuelle den Minderheitsbegriff schon früh kritisiert haben – und was das jüdische Denken über Assimilation mit heutigen feministischen und postkolonialen Debatten zu tun hat.
(ch)