Afghanische Juden pflegen alte Traditionen
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Die jüdische Gemeinde in Afghanistan wurde vor über 2000 Jahren gegründet. Doch es sind – bis auf einen – alle afghanischen Jüdinnen und Juden geflohen. Seit Jahren verfolgen sie das Geschehen aus dem Exil und pflegen trotzdem ihre Wurzeln.
Nach dem Sturz der Taliban-Herrschaft reiste der jüdische Kanadier Shlomo Yekutiel im Jahr 2002 zum ersten Mal nach Herat in Afghanistan, in die Stadt, in der er seine Kindheit verbrachte.
"Ich fand heraus, dass drei Synagogen renoviert wurden und eine zerfiel. Eine Synagoge diente als Kulturzentrum, eine weitere als Schule und die dritte als Moschee. Als die Juden Herat verließen, überließen sie ihre Gebetshäuser der Stadt. Beim Besuch des jüdischen Friedhofs fand ich ihn in einem erbärmlichen Zustand", erzählt er.
"Im Talmud steht: Dort, wo sich niemand um die Allgemeinheit kümmert, tue es selbst. Ich sammelte daher Spenden bei amerikanischen Juden, die aus Afghanistan stammen, um rund 50 der insgesamt 200 Grabsteine zu restaurieren. Zudem bauten wir eine drei Meter hohe Mauer um den Friedhof herum." Damit die Kinder dort nicht mehr Fußball spielen.
Der 75-jährige Geschäftsmann Shlomo Yekutiel nannte sich beim Besuch in Afghanistan vorsichtshalber "Suleiman", trug ein traditionelles Gewand und ließ seinen Bart wachsen. Die Sprache beherrscht er von zu Hause und dennoch hatte er Angst.
Seit einigen Jahren lässt er trotzdem in Afghanistan Teppiche mit jüdischen Motiven herstellen. Eine israelische Grafikerin hatte sie für ihn entworfen – und so knüpft er seit Jahren vertrauliche Geschäftsbeziehungen zu Afghanen. Die Schablonen mit den jüdischen Symbolen und den hebräischen Buchstaben liefert er selbst. Auf den Teppichen abgebildet sind eine Menora, die Aufopferung des Isaak, die zwölf Stämme Israels oder die Arche Noah.
Shlomo Yekutiel erzählt: "Die Teppiche werden in der Stadt Achsche bei Masar-e Scharif im Norden des Landes handgewoben. Dann werden sie nach Pakistan gebracht, als 'Made in Pakistan' deklariert und schließlich nach Kanada verschifft."
Produktion kann trotz Taliban fortgeführt werden
In den afghanischen Synagogen saßen die Beter auf großen Kissen, die wiederum auf sehr teuren, gespendeten Teppichen lagen. Sitzbänke lernten sie erst in Israel kennen.
Ob die heimliche Produktion jüdischer Teppiche in Afghanistan eine Zukunft hat, hängt viel mehr von der Nachfrage im Westen als vom Taliban-Regime ab.
In den letzten Tagen hat Shlomo Yekutiel mit seinen Kontakten in Afghanistan telefoniert. Sie baten ihn um Hilfe bei der Ausreise, die er aber nicht leisten konnte.
Vor zehn Jahren gründete Shlomos israelischer Neffe Zeev Yekutiel die Webseite der afghanischen Juden in Israel mit. Sein Vater stammt aus der Stadt Herat und kam 1951 nach Israel, zusammen mit den meisten afghanischen Juden. Die Familie seiner Mutter kam bereits Ende des 19. Jahrhunderts ins Land.
Sie alle machten die lange Reise auf eigene Faust. Kein Wunder, dass die inoffizielle Hymne der afghanischen Juden in Israel ihre Sehnsucht nach Jerusalem zum Ausdruck bringt.
Die Juden aus den verschiedenen Regionen Afghanistans unterscheiden sich sehr. Das kennt Zeev Yekutiel aus der eigenen Familie.
"Mein Vater sprach Daril, eine persische Sprache aus Herat. Meine Mutter sprach Gileki, denn ihre Familie stammte aus Maschchad im Iran, unweit der afghanischen Grenze", erzählt er.
"Beide lachten über den jeweiligen Dialekt des anderen, den sie teilweise nicht verstanden. Meine Sprache ist eine Mischung von beiden, aber auf den Straßen von Kabul oder Herat würde ich bestimmt zurechtkommen."
Zu Hause lernte Zeev Yekutiel auch afghanisch-jüdische Sprichworte: "Von meinem Vater lernte ich: 'Wenn der Eintopf nicht für dich zubereitet wurde, frage nicht, was darin ist.' Von meiner Mutter lernte ich den Spruch: 'Ich will deine Spende nicht, aber stecke das Geld in meine Hosentasche so, dass ich es nicht merke.'"
Die Lederpeitsche in Jerusalem
Manche Bräuche westafghanischer Juden, die Zeev Yekutiel als Kind erlebte, wurden wohl von der Tradition ihrer schiitischen Nachbarn beeinflusst. Denn viele afghanische Juden in Herat stammten aus dem Iran.
"Am Vorabend des Versöhnungstags Yom Kippur wurden jüdische Männer auf ihren Wunsch hin gepeitscht – auf einem Holzbett in einem kleinen Raum der Synagoge in Jerusalem. Ich sah, wie ein Mann mit einer Lederpeitsche auf die Beter richtig einschlug, aber mit ihrer Zustimmung. Die Zahl der Schläge korrespondierte wohl mit der ihrer Sünden. Mein Vater und mein Großvater taten das nie", erzählt er.
"Der zweite spezielle Brauch am Yom Kippur betraf Rosen: Mein Großvater verteilte das von ihm hergestellte Rosenwasser und Rosenöl an allen afghanischen Synagogen. Nach dem letzten Gebet standen alle Cohens oder Nachfahren der Priesterkaste in einer Reihe und erhielten einige Tropfen auf die Hände. Diese wurden dann in einer Schüssel eingesammelt und junge Frauen, die noch keine Kinder hatten, tranken sie als Segen."
Säuglinge wurden in Israel behandelt
Mit dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan wanderten 1989 auch die Juden der letzten Gemeinden in Herat und Kabul aus – die meisten nach Israel, einige nach Singapur, London und New York.
Afghanistan hat niemals Israel anerkannt. Dennoch verdanken einige Afghanen Israel ihr Leben, wie Zeev Yekutiel erzählt:
"Das Wolfssohn-Krankenhaus behandelte mehrmals auf eigene Kosten herzkranke afghanische Kleinkinder‚ die über Istanbul einreisten. Ich sah mit eigenen Augen, in welchem Zustand diese Babys eingeliefert und in welchem sie entlassen wurden. Eine solche Behandlung hätten sie in Afghanistan niemals bekommen."
Zeev Yekutiel dolmetschte für die afghanischen Begleiter der Kinder, die für die Rettung der Babys sehr dankbar waren.
Über die Webseite der afghanischen Israelis wurde Yekutiel von einer Gruppe muslimischer Afghanen kontaktiert, die offiziell Israel besuchten. Sie sollten mit amerikanischer Hilfe den Opiumanbau durch Granatapfelbäume ersetzen. Er zeigte ihnen die zentrale Synagoge der afghanischen Juden in Jerusalem: Jeschua Werachamim.
Trotz der Machtübernahme der Taliban ist Shlomo Yekutiel überzeugt, dass er Afghanistan bald wieder bereisen darf.