Schafft sich die jiddische Bibliothek YIVO selbst ab?
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Das legendäre YIVO-Institut in New York, das eine der bedeutendsten Sammlungen jiddischen Schriftguts besitzt, entlässt alle Bibliothekare. Es ist zu befürchten, dass der Zugang zu dem einmaligen Material erschwert oder unmöglich gemacht wird.
Alan Bern, der Direktor und Begründer des Yiddish Summer Weimar, kann es noch immer nicht fassen:
"Die Bibliothekarinnen in der YIVO Bibliothek waren Legende. Wie sie mit der Sammlung umgehen konnten. Immer, wenn ich davon Gebrauch gemacht habe, bin ich da reingegangen, ich hatte eine Frage und ich kam mit einer Weiterbildung weg davon."
Mit einem Schlag hat das Institute for Jewish Research (YIVO) in New York, das weltweit bedeutendste und einmalige Archiv für die jiddische Kultur, sämtliche seiner Bibliothekare entlassen. Für Alan Bern ist dies schlicht eine Katastrophe.
Mit dem Weggang der Vier, allesamt versierte Jiddisch-Experten und ausgewiesene Kenner des osteuropäischen Judentums, die zum Teil seit Jahrzehnten den guten Geist dieser renommierten Einrichtung repräsentierten, fehle der Wegweiser durch diese einzigartige Sammlung.
"Eine Kultur, für die die Schrift so eine wichtige Rolle spielt wie für die jüdische Kultur und die jiddische Kultur, wenn man Experten entlässt, die uns diese Bedeutung erklären und ihre Übersicht über die Sammlung mitteilen können, das ist einfach eine Katastrophe für alle. Der symbolische Wert dieser Entscheidung tut vielleicht noch mehr weh als die realen Folgen."
Der Zugang zu einem kulturellen Schatz geht verloren
Auf mehr als 23 Millionen Archivalien kommt das YIVO insgesamt. Bücher, Zeitungen, Plakate, Nachlässe, Tonaufnahmen. Die Bibliothek beherbergt 385.000 Bücher, davon allein 40.000 auf Jiddisch. Es ist die mit Abstand wichtigste Sammlung für die jiddische Kultur und für Künstler, Journalisten, Wissenschaftler folglich die erste Adresse, wenn es um Quellen zu dieser Kultur geht.
Weltweit, so beobachtet es Alan Bern auch beim Yiddish Summer, für dessen thematische Vorbereitung das YIVO eine ungemein wichtige Quelle sei, wachse die Jiddisch-Community. Gerade in den USA sei das zu beobachten, wie zuletzt der Erfolg einer jiddischsprachigen Version des "Fiddler on the Roof" am Broadway zeige. So gesehen, weise die Entlassung der YIVO-Bibliothekare in die völlig falsche Richtung:
"Das sind kulturelle Schätze und man kann nicht übertreiben, wie wichtig sie sind. Und ein Bibliothekar ist einfach der Zugang zu diesen Sachen."
Die völlig überraschende Mitteilung vom 20. Januar schlug in der Jiddisch-Szene hohe Wellen. Begründet wurde der harte Einschnitt von der Leitung des YIVO mit finanziellen Problemen. Es gehe um eine Budgetlücke von einer halben Million Dollar. Das Haus in New York City erhält keine staatliche Förderung und muss sich selbst um die Finanzierung kümmern, etwa durch umfassendes Fundraising.
Auf eine schriftliche Anfrage hat Direktor Jonathan Brent mit einer Stellungnahme geantwortet. Das YIVO beteuert, die Arbeit werde nicht eingeschränkt, der Zugang zur Bibliothek bleibe erhalten. Zudem suche man derzeit nach einem neuen Team für die Bibliothek.
Bibliothekare sind unersetzlich
Kritiker der Entscheidung befürchten indes genau das: Dass der Zugang zu den Quellen dieses sehr speziellen Bestandes ohne die Experten äußerst erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht werde. Es gebe weltweit gerade einmal ein Dutzend Fachleute, die für diese Arbeit überhaupt die Expertise besäßen, sagt Alan Bern. Die konkreten Probleme, die sich nun ergeben, macht die kanadische Wissenschaftlerin Faith Jones an einem Beispiel deutlich:
"Ich lebe in Vancouver. Wenn ich ein Problem hatte, sagen wir mit einem Text, der in einem Subdialekt des litauischen Jiddisch verfasst ist, konnte ich Lyudmila Sholokhova eine E-Mail senden und sie konnte mir genaue Quellen nennen, die mir weiterhalfen. Sie wusste genau, welches Buch eine Liste mit diesen seltenen Jiddisch-Vokabeln hatte. Das ist ein Wissen, das nur Bibliothekare mit ihrem Überblick über die Sammlung haben."
Von Wilna in die Neue Welt
Wer an das YIVO in New York denkt, hat unweigerlich die dramatische Geschichte dieser Institution vor Augen: Gegründet wurde es 1925 im litauischen Wilna. Fachleute und Laien gleichermaßen begannen, Bücher und Dokumente zu sammeln und zu sichern, was sie bedeutsam für die jüdische Kultur Osteuropas hielten.
Bald schon gab es Ableger in der ganzen Welt. Und die Zeit gab ihnen recht, denn diese Welt stand vor ihrem Untergang. Max Weinreich, der Gründer des Wilnaer YIVO, konnte 1939 nach New York emigrieren und dort das neue Hauptquartier aufschlagen.
Das YIVO ist damit auch ein Symbol für das untergegangene "Jiddischland" in Osteuropa. Wer immer sich heute mit dem YIVO beschäftige, müsse diese Geschichte mit im Blick haben, sagt die Jiddisch-Spezialistin Janina Wurbs. Sie hat viele Stunden im YIVO verbracht.
"Wir haben natürlich alle die Schoah im Hintergrund und alle die Geschichte dieser Institution und wie die Materialien gerettet wurden unter Einsatz des Lebens, von Sutzkever und Kaczerginski und so weiter. Das heißt, diese Frage steht immer mit im Raum: Digitalisierung oder nicht Digitalisierung? Brauchen wir diese Bibliothekare oder nicht?
Es fühlt sich an wie eine Art zweiter Tod. Wir fragen wir uns: Wenn diese Materialien schon gerettet wurden und wir den Zugang dazu haben, warum wäre jemand freiwillig bereit, auf das Wissen, was nötig ist, um diese Materialien zu benutzen, zu verzichten?"
Neue Möglichkeiten durch Digitalisierung
Janina Wurbs ärgert sich vor allem über die Kommunikation des Hauses. Alle seien auf kaltem Fuß erwischt worden. Und weshalb es ausgerechnet das komplette Bibliotheksteam treffe, obwohl das YIVO noch andere Departements habe, erschließe sich ihr nicht.
"Dann hätte es ein spezielles Fundraising geben müssen! Und nicht einfach plötzlich die ganze Wissenschaftler-Community vor vollendete Tatsachen stellen, dass jetzt mal eben die Bibliothekare alle weg sind."
Tatsächlich bieten moderne Bibliotheksprogramme viele neue Möglichkeiten. Die Digitalisierung von altem Schriftgut ist aus vielerlei Hinsicht sinnvoll, sei es aus konservatorischen Gründen oder weil dadurch der Zugang erleichtert wird. So gibt es immer mehr Bibliotheken, die Personal auf diese Weise einsparen und gleichzeitig ihre Effizienz steigern. So, wie es auch die YIVO-Leitung andeutet.
Proteststurm binnen weniger Stunden
Im Fall des YIVO könne man diesen Weg jedoch kaum gehen, sagen Kritiker. Die Mitarbeiter seien schließlich das große Pfund dieser Einrichtung gewesen. Sie hielten einen wichtigen Schlüssel für die Erforschung des osteuropäischen Judentums in der Hand, sagt Alan Bern:
"Wir leben mit soviel Missverständnis sowieso über die jiddische Kultur, mit so vielen Vorurteilen und so vielen Klischees und wir arbeiten ständig daran, diese Klischees abzubauen und ein bisschen mehr Licht reinzubringen in die Auseinandersetzung. Und dann erwartet man einfach vom YIVO hundertprozentige Unterstützung."
Die Entlassung der vier Bibliothekare löste einen bemerkenswerten Proteststurm aus. Faith Jones, die selbst eine Bibliothek an der Columbia University in Vancouver leitet, war Mitinitiatorin einer Petition an die YIVO-Leitung, die binnen 36 Stunden von mehr als 1200 Wissenschaftlern, Künstlern und Jiddisch-Experten unterzeichnet wurde. Allein diese Reaktion macht deutlich, welchen Widerhall die Entlassung in der Jiddisch-Szene gefunden hat.
Doch wird der Protest etwas ausrichten? Das YIVO, das bald seinen 100. Geburtstag feiert, werde so schnell nicht untergehen, schrieb die in Toronto lehrende Anna Shternshis in einem Beitrag für die Canadian Jewish News. Sie hoffe aber, das Jahr 2020 werde eines Tages nicht dafür stehen, an dem den Jiddischen Studien irreversiblen Schaden zugefügt worden sei.