Jüdisches Leben

Als Jude unterwegs durch Berlin

Eine junge Frau mit Kippa nimmt am Samstag (15.09.2012) in Berlin an einer Demonstration teil. Der Kippa-Spaziergang, zu dem im Internet aufgerufen worden war, sollte ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen und fand auch anlässlich des bevorstehenden jüdischen Festes Rosch ha-Schana (jüdischer Neujahrstag) statt.
Eine junge Frau mit Kippa in Berlin © picture alliance / dpa / Britta Pedersen
Von Ofer Waldman · 27.04.2015
Wie es ist, als Jude in Deutschland unterwegs zu sein, darüber macht sich Ofer Waldman im "Politischen Feuilleton" Gedanken. Als israelischer Musiker spielte er im Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin und forscht derzeit als Doktorand an der Freien Universität.
Es werden nicht viele Juden auf den Straßen Berlins gesehen. Dies bedeutet freilich nicht, dass es nur wenige in Berlin gibt. Ganz im Gegenteil: die jüdische Gemeinde hier gehört zu den am schnellsten wachsenden der Welt. So muss präzisiert werden: Juden geben sich nicht zu erkennen, sie entziehen sich dem Wagnis der Öffentlichkeit.
Dies hat offensichtliche Gründe: nach den Anschlägen in Kopenhagen und Paris wird wieder über die Sicherheit der jüdischen Bürger Europas debattiert. Alte Vorfälle, wie der Angriff auf den Rabbiner Daniel Alter in Berlin-Schöneberg im Jahre 2012, werden mit den antisemitischen Rufen auf den Anti-Israel-Demonstrationen des letzten Sommers verknüpft.
Die Rede ist von "No-Go-Zonen", vor allem in jenen Bezirken mit einer großen muslimischen Bevölkerung, wie Neukölln, Kreuzberg oder Wedding. Die Polizei ist vor jüdischen Einrichtungen sichtlich stärker präsent. Hinzu kommen pro-jüdische Solidaritäts-Aktionen wie der "Kippa-Flash-Mob".
Aus der deutschen Ursünde herleitend, gilt eine Gewalttat gegen Juden für das bundesrepublikanische Selbstempfinden als der Inbegriff eines Verbrechens. Seine Bekämpfung ist geradewegs identitätsstiftend. Ein Kippa-tragender Jude, der durch Berlin läuft, bietet demnach einen lebendigen Lackmus-Test für die Werte der ihn umgebenden Gesellschaft an.
Auf sein Selbstverständnis als Jude kommt es weniger an. Nimmt er seine Kippa ab, weil er Angst vor Gewalttätigkeit hat, trägt er sie vielleicht nie, weil er gar kein praktizierender Jude ist, wird er für Passanten unkenntlich, uninteressant, unbrauchbar. Er verliert seine identitätsstiftende Funktion und wird zum normalen Bürger degradiert.
Die deutsche Öffentlichkeit bedarf des Juden
Hannah Arendt behauptete, jede Person bedürfte der Öffentlichkeit, um sich zu vervollständigen. Ihre Beobachtung verkehrt sich hier: die deutsche Öffentlichkeit bedarf des Juden, um sich zu vervollständigen.
Als Juden nach dem Angriff auf Rabbiner Alter ihre Kippa nicht mehr aufsetzten, reagierten circa 150 nicht-jüdische Bürger solidarisch und liefen kopfbedeckt durch die Straßen, möglicherweise auch um den Kippa-Entzug, der sie als deutsche Öffentlichkeit schmerzte, zu überwinden.
Diesen Gesten in einem Teil Berlins stehen vermeintliche "No-Go-Zonen" in einem anderen Teil der Stadt gegenüber. Wo das Kopftuch herrscht, soll sich die Kippa nicht zeigen!? Das kommt mal als Kampfansage wie mal als Warnung daher – und wird sodann zur allseits akzeptierten Unterstellung. Jedoch werden die meisten Überfälle auf jüdische Bürger in Berlin von Neo-Nazis und nicht von Muslimen verübt.
Ein Phänomen der Gegenwart
In der Tat sind Kopftuch und Kippa in Deutschland nicht verschränkt: das eine ist ein Phänomen der Gegenwart, das andere eine Referenz an die Vergangenheit. Und doch haben sie etwas gemeinsam: die Muslima wie der Jude bekennen sich öffentlich und erwarten als solche respektiert, zumindest aber nicht diskriminiert werden.
Jedoch macht das Reden von den "No-Go-Zonen" in erster Linie Muslimen den Vorwurf, das ganz spezielle Verbot, Juden anzugreifen, missachtet zu haben - und damit deutsche oder gar abendländische Grundwerte. Mehr noch: ein solches Verbot in Deutschland zu ignorieren, gerät zum Beweis einer misslungenen Integration.
Der jüdische Lackmus-Test, die Kippa als urdeutsche Referenz, bietet also nicht nur die Chance an, sich zur deutschen Gesellschaft zu bekennen, sondern auch ein vermeintliches Mittel, Unerwünschte aus ihr auszuschließen.

Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern-Divan Orchesters. In Deutschland erwarb er ein Diplom als Orchestermusiker und spielte unter anderem beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern. Anschließend war er an der Israelischen Oper engagiert und absolvierte daneben ein Masterstudium in Deutschlandstudien an der Hebräischen Universität Jerusalem. Derzeit ist er Gastdoktorand an der Freien Universität Berlin und beschäftigt sich in Vorträgen und Texten mit den deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen und israelisch-arabischen Beziehungen.

Ofer Waldman
© Kai von Kotze
Mehr zum Thema