Jüdisches Leben im Osten vor dem Völkermord
Sie waren die Heimat von 1,3 Millionen Juden: die "Schtetelech", kleinere Städte und Dörfer im östlichen Grenzland Polens. Yehuda Bauer legt eine Sozialgeschichte über die dort lebende Bevölkerung vor, die ab 1942 von den Nationalsozialisten systematisch ermordet wurde.
"Ein Historiker ist meiner Meinung nach jemand, der nicht nur Geschichte analysiert, sondern auch wahre Geschichten erzählt", sagte der israelische Historiker Yehuda Bauer anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus 1998 im Deutschen Bundestag.
Bauer, 1926 in Prag geboren, ist einer der renommiertesten Holocaust-Forscher und war lange Jahre Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Sein jüngstes Buch "Der Tod des Schtetls", vor vier Jahren im englischen Original erschienen, liegt nach einiger Verzögerung nun auch auf Deutsch vor.
Bauer widmet sich darin einem Teilaspekt des Holocaust und richtet sein Augenmerk auf die "Schtetelech" - kleinere Städte, Dörfer und Gemeinden im östlichen Grenzland Polens in der Zwischenkriegszeit, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs Heimat von 1,3 Millionen Juden.
Zu den "Schtetelech" der 1930er- und 40er-Jahre finden sich kaum soziologische oder historische Untersuchungen. Bauer versucht dennoch, aufgrund einer Quellenlage, die er selbst als "problematisch" einstuft, ein plastisches Bild der damaligen Verhältnisse zu rekonstruieren. Er stützt sich auf Tagebücher, Briefe, Memoranden sowie schriftliche und mündliche Zeugenberichte aus der Nachkriegszeit.
In acht thematisch unterteilten Kapiteln tut Bauer genau das, was seiner Definition nach ein Historiker zu tun hat: Analyse und Zeugenberichte verbinden, um realhistorische Ereignisse zu rekonstruieren. Das gelingt in diesem Fall nur um den Preis etlicher Redundanzen, häufiger Vermutungen und vielfach vager Formulierungen. Dennoch: Man muss Bauers Darstellung in ihrer Gesamtheit als exemplarische Erweiterung unseres Wissens über den Holocaust betrachten.
Dezidiert geht der Historiker auf die Verhältnisse in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg ein. Ein Drittel der Juden lebte dort an oder unter der Armutsgrenze. Sie litten unter zunehmendem Nationalismus und Antisemitismus. Die Jugend des Schtetls engagierte sich in sozialistischen und zionistischen Verbänden.
Nach 1935 – der polnische Premierminister hatte den Boykott von Juden als "natürlich" bezeichnet – kam es verstärkt zu gewalttätigen Übergriffen und Pogromen. So wird verständlich, dass 1939, nach dem Angriff der Deutschen, der Einmarsch der Roten Armee in Polen von den Juden vielerorts enthusiastisch begrüßt wurde. Doch die Sowjets gestalteten das Netzwerk jüdischer Schulen und kommunaler Organisationen radikal um, sie zerstörten das Gemeindeleben, vernichteten religiöse Schriften, zweckentfremdeten Synagogen zu Lagerräumen oder Kinos.
Widerstand, betont Bauer, habe es nicht gegeben. Er führt das auf die Perspektiven zurück, die die Sowjets den Juden anboten: Unterdrückung von Antisemitismus, kostenlose Bildung, bessere Arbeitsmöglichkeiten und Einbindung in die neue Ordnung. Das traditionelle jüdische Leben, so Bauers Befund, sei damit aber bereits vor dem Einmarsch der Deutschen 1941 zerstört gewesen. Mit diesem erfolgte dann, überwiegend zwischen März und Dezember 1942, die physische Vernichtung.
Wie auch in vorhergehenden Werken betont Bauer erneut die ideologische Motivation des Völkermordes und unterstreicht, dass es dagegen durchaus jüdischen Widerstand mit oder ohne Waffengewalt gegeben hätte. Differenziert beleuchtet er die Situation der Judenräte. Ungewöhnlich für einen Historiker begründet er deren unterschiedliches Verhalten mit "Charakter, Zufall und Glück".
"Der Tod des Schtetls" verschafft dem Leser einen nachhaltigen Eindruck von der Ausweglosigkeit, mit der sich die Juden im polnischen Grenzland konfrontiert sahen: In feindlicher Nachbarschaft, nach Zerstörung ihrer kulturellen Strukturen, waren sie einer zum Genozid entschlossenen Militärmacht ausgeliefert. Ihre Reaktionen darauf, resümiert Bauer, hätten sich von denen der Opfer anderer Völkermorde nur durch den unbewaffneten Widerstand – gegenseitige praktische und moralische Hilfe - unterschieden. Das lässt sich allerdings erst bestätigen, wenn andere Völkermorde ebenso ausführlich erforscht worden sind wie der Holocaust.
Besprochen von Carsten Hueck
Bauer, 1926 in Prag geboren, ist einer der renommiertesten Holocaust-Forscher und war lange Jahre Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Sein jüngstes Buch "Der Tod des Schtetls", vor vier Jahren im englischen Original erschienen, liegt nach einiger Verzögerung nun auch auf Deutsch vor.
Bauer widmet sich darin einem Teilaspekt des Holocaust und richtet sein Augenmerk auf die "Schtetelech" - kleinere Städte, Dörfer und Gemeinden im östlichen Grenzland Polens in der Zwischenkriegszeit, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs Heimat von 1,3 Millionen Juden.
Zu den "Schtetelech" der 1930er- und 40er-Jahre finden sich kaum soziologische oder historische Untersuchungen. Bauer versucht dennoch, aufgrund einer Quellenlage, die er selbst als "problematisch" einstuft, ein plastisches Bild der damaligen Verhältnisse zu rekonstruieren. Er stützt sich auf Tagebücher, Briefe, Memoranden sowie schriftliche und mündliche Zeugenberichte aus der Nachkriegszeit.
In acht thematisch unterteilten Kapiteln tut Bauer genau das, was seiner Definition nach ein Historiker zu tun hat: Analyse und Zeugenberichte verbinden, um realhistorische Ereignisse zu rekonstruieren. Das gelingt in diesem Fall nur um den Preis etlicher Redundanzen, häufiger Vermutungen und vielfach vager Formulierungen. Dennoch: Man muss Bauers Darstellung in ihrer Gesamtheit als exemplarische Erweiterung unseres Wissens über den Holocaust betrachten.
Dezidiert geht der Historiker auf die Verhältnisse in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg ein. Ein Drittel der Juden lebte dort an oder unter der Armutsgrenze. Sie litten unter zunehmendem Nationalismus und Antisemitismus. Die Jugend des Schtetls engagierte sich in sozialistischen und zionistischen Verbänden.
Nach 1935 – der polnische Premierminister hatte den Boykott von Juden als "natürlich" bezeichnet – kam es verstärkt zu gewalttätigen Übergriffen und Pogromen. So wird verständlich, dass 1939, nach dem Angriff der Deutschen, der Einmarsch der Roten Armee in Polen von den Juden vielerorts enthusiastisch begrüßt wurde. Doch die Sowjets gestalteten das Netzwerk jüdischer Schulen und kommunaler Organisationen radikal um, sie zerstörten das Gemeindeleben, vernichteten religiöse Schriften, zweckentfremdeten Synagogen zu Lagerräumen oder Kinos.
Widerstand, betont Bauer, habe es nicht gegeben. Er führt das auf die Perspektiven zurück, die die Sowjets den Juden anboten: Unterdrückung von Antisemitismus, kostenlose Bildung, bessere Arbeitsmöglichkeiten und Einbindung in die neue Ordnung. Das traditionelle jüdische Leben, so Bauers Befund, sei damit aber bereits vor dem Einmarsch der Deutschen 1941 zerstört gewesen. Mit diesem erfolgte dann, überwiegend zwischen März und Dezember 1942, die physische Vernichtung.
Wie auch in vorhergehenden Werken betont Bauer erneut die ideologische Motivation des Völkermordes und unterstreicht, dass es dagegen durchaus jüdischen Widerstand mit oder ohne Waffengewalt gegeben hätte. Differenziert beleuchtet er die Situation der Judenräte. Ungewöhnlich für einen Historiker begründet er deren unterschiedliches Verhalten mit "Charakter, Zufall und Glück".
"Der Tod des Schtetls" verschafft dem Leser einen nachhaltigen Eindruck von der Ausweglosigkeit, mit der sich die Juden im polnischen Grenzland konfrontiert sahen: In feindlicher Nachbarschaft, nach Zerstörung ihrer kulturellen Strukturen, waren sie einer zum Genozid entschlossenen Militärmacht ausgeliefert. Ihre Reaktionen darauf, resümiert Bauer, hätten sich von denen der Opfer anderer Völkermorde nur durch den unbewaffneten Widerstand – gegenseitige praktische und moralische Hilfe - unterschieden. Das lässt sich allerdings erst bestätigen, wenn andere Völkermorde ebenso ausführlich erforscht worden sind wie der Holocaust.
Besprochen von Carsten Hueck
Yehuda Bauer: Der Tod des Schtetls
Aus dem Englischen von Klaus Binder
Jüdischer Verlag, Berlin 2013
363 Seiten, 19,90 Euro
Aus dem Englischen von Klaus Binder
Jüdischer Verlag, Berlin 2013
363 Seiten, 19,90 Euro