Dem Antisemitismus die Stirn bieten
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900 Mitglieder hat die Jüdische Landesgemeinde Thüringen zurzeit, viele davon sind aus der ehemaligen Sowjetunion zugewandert. Wie können sie heute in Deutschland jüdisches Leben gestalten, gerade in Zeiten wachsenden Antisemitismus?
Es ist ein trüber Nachmittag auf dem neuen jüdischen Friedhof in Erfurt. Eine große Trauergemeinde hat sich versammelt, um ihm die letzte Ehre zu erweisen: Wolfgang Nossen. Mit 88 Jahren ist er verstorben, der langjährige Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen.
Er war, sagt Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, "die Stimme, die uns immer wieder gesagt hat, ihr müsst darüber nachdenken. Ihr Mehrheitsgesellschaft. Es ist nicht unsere Angelegenheit, weil, wir als Jüdinnen und Juden wissen um unsere Bedrohung und wir wissen, wie kompliziert das Leben in Deutschland ist. Seine Worte waren an uns gerichtet, uns gemeinsam damit auseinander zu setzen, was es heißt, ein Deutscher, ein deutscher Jude, ein Jude in Deutschland zu sein und damit jüdisches Leben zu ermöglichen. Und deshalb ist das Vermächtnis, das da bleibt, dass wir über Parteigrenzen hinweg zusammen stehen müssen, dass Freiheit, die wir in unserem Land haben, dass diese nicht selbstverständlich ist und sehr schnell wieder unter die Räder kommen kann, wenn jemand angegriffen wird, weil er eine Kippa trägt oder ein Kreuz oder ein Kopftuch."
Am Rande der Trauerfeier stehen Vertreter der christlichen Kirchen. Auch Ricklef Münnich, der Wolfgang Nossen bereits aus seiner Zeit als Landesjugendpfarrer kennt. Das war in den 1990er-Jahren, als die Jüdische Gemeinde durch Zuwanderer aus Osteuropa wuchs. Und Nossen ist es wohl zu verdanken, dass hier Strukturen entstanden und der Dialog nach außen. Zum Beispiel zwischen Kirche und Judentum, erklärt der Theologe Ricklef Münnich:
"Das ist eine Gruppe, die schon in der DDR auch christlich-jüdischen Dialog vorangebracht hat und die es bis heute gibt. Und da war er ein ganz treuer Wegbegleiter und fehlt uns da sehr. Er war der Vertreter der jüdischen Gemeinde und immer eigentlich dabei."
Sein Anliegen - damals so aktuell wie heute: Wie entsteht aktives jüdisches Leben, eine neue Heimat, in der man die Religion leben kann auf deutschem Boden?
"Er hatte ein weites Herz", sagt Münnich. "Aber gerade auch der Blick auf Israel war immer wieder wichtig. Er wusste und hat immer klar gesagt: Wir brauchen eine jüdische Identität. Wir brauchen einen Rabbiner und wir müssen eine Gemeinde haben, die auch örtlich zusammen ist. Er hat dafür gesorgt, dass es heute drei Standorte für die Jüdische Landesgemeinde gibt, in Nordhausen, Jena und Erfurt."
Jüdisches Leben als Zuhause
In Erfurt lebt heute auch Rita. 65 Jahre alt. Eine kleine korpulente Frau mit dunkler Mütze, buntem Schal und schmuckvollen Ohrringen. Eigentlich möchte sie kein Interview geben, denn das Deutsch sei zu schlecht. Aber dann erzählt sie doch, wie sie einst aus der Ukraine kam, aus Odessa - und überlegt kurz, wie lange das eigentlich schon her ist:
"In Deutschland 20 bis 22 Jahre."
Erinnern kann sich sie noch an die Kindheit und die Großeltern:
"In Odessa viele Straße - alle Juden sprechen jüdische Sprache."
Sie erzählt vom Duft der Kindheit, den Tulpenbeeten, die sie immer bewunderte, und von den Dörfern in der Nachbarschaft, die deutsche Namen trugen. Und heute - was ist heute jüdisches Leben für sie?
"Sehr viel. Nun das meine Haus. Meine Haus."
Und mit wenigen Worten bringt sie auf den Punkt, was Politiker so gerne mit "gelungenem Dialog" umschreiben:
"Besser für unsere Familie vielleicht? Ich wünsche viele Freundschaft mit Leute - mit viele Menschen."
900 Personen gehören zur Gemeinde
Das jüdische Miteinander zu fördern ist mittlerweile auch Benjamin Immanuels Hoffs Aufgabe geworden. Er ist seit einem Monat der Beauftragte der Landesregierung für das jüdische Leben.
"Wir wollen mit dieser Beauftragung deutlich machen, dass es für uns ein wirklicher Schwerpunkt ist", sagt er. "Den machen wir jetzt auch nach außen hin tatsächlich deutlich."
Etwa 900 Personen gehören zur Gemeinde mit allen Strömungen, Ecken, Kanten und Problemen - aber auch mit der Angst vor Antisemitismus:
"Und es geht natürlich darum, dass wir Antisemitismus im Alltag als das kennzeichnen, was er ist. Wir haben eine Form von Beleidigungen, die wir auf Schulhöfen hören, Vorfälle, die zum Teil nicht als Antisemitismus, sondern nur als Sachbeschädigung erkannt werden, hier zu sensibilisieren und als gesellschaftlichen Konsens deutlich zu machen: Das wollen wir nicht!"
Er ist nicht nur DER Beauftragte, sondern vor allem Chef der Staatskanzlei und will in der Debatte um jüdisches Leben vor allem die einen nicht gegen die anderen ausspielen:
"Was wir auf keinen Fall tun werden, ist, unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Antisemitismus ein Kampf gegen Muslime zu führen. Es gibt hier eine politische Strömung, die sagt, wir müssen unsere deutschen Juden vor Flüchtlingen schützen. Das haben die Antisemitismusbeauftragten der Länder gesagt, wird nicht Teil unseres Gegenstandes sein. Wir wenden uns in gleicher Weise gegen Antisemitismus wie auch gegen Vorurteile und auch Instrumentalisierung von Musliminnen und Muslimen als vermeintlich durch die von Antisemiten. Das trifft die Realität nicht, das ist eine Beleidigung gegenüber unseren muslimischen Glaubensbrüdern und Schwestern. Insofern ist das ein wichtiger Punkt, weil es hier diese Instrumentalisierungsneigung gibt."
"Ich habe eine Netzwerkfunktion"
Worte, die nicht allen gefallen dürften. Auf ein Schwarz-Weiß-Denken will sich Benjamin Immanuel Hoff allerdings nicht einlassen und sieht seinen Job als Querschnittsaufgabe für jegliche Ressorts und für den Blick auf das Ganze. Ein Extra-Budget gibt es nicht:
"Es geht nicht darum, dass das, was in Thüringen dazu stattfindet, auf eine Person - den Beauftragten - zu konzentrieren. Ich habe eine Netzwerkfunktion. Aber die Aufgaben, die jede Ministerin, jeder Minister, die Oberbürgermeister oder Kulturvertreter bereits machen, sollen sie weiterhin machen. Es geht darum, dass wir mehr tun wollen, aber nicht, das wir bisherige Aktivitäten auf eine Person fokussieren. Das war ganz bewusst auch das Commitment, um nicht den Eindruck zu erwecken, als ob andere jetzt aus der Verantwortung in diesem Sektor etwas zu tun, entlassen werden, weil es ja einen Beauftragten gibt. Ganz im Gegenteil: Es geht eher darum, dass der Beauftragte dafür Sorge trägt, dass noch Zusätzliches geschieht."
Vielleicht auch im Interesse der 65-jährigen Rita aus Odessa, deren Tochter bereits sehr viel besser integriert ist, mehrere Sprachen spricht und beruflich auf festen Beinen steht.
So wie viele andere der zweiten und dritten Generation auch. Sie übernehmen Ämter im Stadtrat und engagieren sich in Parteien.
Es geht darum, Lebensbiografien anzuerkennen
Das jüdische Leben voranzubringen, ist also eine vielschichtige Aufgabe, meint auch Ricklef Münnich von der Arbeitsgemeinschaft Kirche und Judentum - wenn es darum geht, Lebensbiografien anzuerkennen:
"Wie denken frühere Sowjetbürger, die hier seit 30 Jahren leben, deren Berufsabschluss nie anerkannt worden ist - die deswegen auch nicht richtig Deutsch lernen konnten. Sie haben eigentlich - das ist der Großteil davon - sie haben nicht wirklich eine Chance bei uns gehabt. Und umso mehr haben wir die Verpflichtung, dass die nächste Generation jetzt Chancen bekommt."
Und damit auch mehr Verantwortung übernehmen kann. Das sieht Reinhard Schramm so, der Vorsitzende der Jüdischen Landsgemeinde in Thüringen:
"Wir müssen sehen, dass unsere Jugend nicht nur in Thüringen bleibt, sondern in Thüringen auch Leistung vollbringt, und dass wir wieder einen wichtigen Beitrag im gesellschaftlichen Leben spielen - das betrifft die Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft. Das wäre unsere Aufgabe. Ich denke, das müssen wir ernst nehmen. Und das zweite ist, dass wir Bedingungen brauchen, die einst zerstört wurden. Die Vergangenheit können wir nicht rückgängig machen und die Lücken, die geschlagen wurden, können wir auch nicht rückgängig machen. Aber wir können fordern und das machen wir auch, dass die Regierung - egal welche Partei an der Macht ist - uns unterstützt."
Reinhard Schramm ist im jetzigen Amt der Nachfolger von Wolfgang Nossen. Beide haben es sich manchmal nicht einfach miteinander gemacht:
"Das Verhältnis zu Herrn Nossen hat sich in den letzten 20 Jahren verbessert. Wir hatten am Anfang ein etwas schwierigeres Verhältnis. Das hat sich zunehmend gebessert, weil ich zunehmend auch mehr Respekt und Anerkennung ihm gegenüber empfunden habe."
Denn sein Vorgänger galt auch als kantig und widerborstig - vor allem beim Thema Existenzrecht Israels. Dem Recht auf einen jüdischen Staat.
"Ich sage immer, so banal wie es klingt, hätte es diesen jüdischen Staat zehn Jahre eher gegeben - nicht 1948, sondern 1938 - hätten viele von uns, auch ich, noch Großeltern, Tanten, Onkel, erlebt. Das war uns verwehrt. Unsere Familien haben umsonst um Visa gebettelt und oft nicht bekommen."
Genau deshalb geht Reinhard Schramm heute hart mit der Politik ins Gericht:
"Erstmals erwarte ich, dass der Trend in Europa und darüber hinaus der Nationalismus aufs Schärfste bekämpft wird. Im Ergebnis des wachsenden Nationalismus wächst Antisemitismus automatisch mit und deswegen spüren wir den bösen Geist des Nationalismus vielleicht etwas eher als andere."
"Die Arbeit muss unten gemacht werden"
Dass es jetzt einen Beauftragten für das jüdische Leben gibt, sei positiv und ein klares Signal der Landesregierung. Aber, so Reinhard Schramm:
"Anderseits wissen wir, dass das ganz konkrete Arbeit ist, die man tun muss, und da gehört - was in Thüringen gut funktioniert - die Sorge um das jüdische Erbe, das Jubiläum im Jahr 2021 - 900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen. Alle Leute, die daran arbeiten, müssen wissen, der Staat nimmt das ernst. Aber die Arbeit muss unten gemacht werden, und da fehlt manchmal das Wissen. Manchmal fehlt auch das Herz dafür."
Er kennt - wie sein Vorgänger Wolfgang Nossen - die sozialen Sorgen und Nöte der Gemeindemitglieder, vor allem der älteren Menschen. Er sieht aber auch, wie die nächsten Generationen selbstverständlich das jüdische Leben annehmen und pflegen:
"Wir brauchen ganz normales jüdisches Leben und die Bedingungen dazu. Und das ist zur Zeit im Entstehen. Wir können uns nicht selber unterstützen, weil unsere Leute hier nicht verwurzelt sind. Die fangen ja an, jüdisches Leben aufzubauen. Deswegen brauchen wir die Gesellschaft, die uns dabei hilft.
Ganz bewusst unterstützt das Land - wenn auch sehr unterschiedlich - drei Festivals mit jüdischer Ausrichtung - eines davon ACHAVA:
"Es hat viel damit zu tun, dass der Ministerpräsident seine gesamte Persönlichkeit in die Waagschale geworfen hat, um ein solches Festival zu etablieren", sagt Benjamin Immanuel Hoff. "Und es hat auch damit zu tun, dass wir eine Viertel Million Euro als Freistaat Thüringen in ein solches Festival geben, zusätzlich zu der Förderung von Yiddish Summer und anderen Vorhaben. Und insofern sage ich, wir wollen natürlich immer mehr, können uns mehr vorstellen."
Aber auch in Thüringen sei der Kulturetat begrenzt und - so Staatskanzleichef Hoff - gerade mal so hoch wie jener der Stadt Frankfurt am Main.
Die Ohren offenhalten und aufeinander zugehen
Auch Ricklef Münnich engagiert sich für ein Festival, die Jüdisch-israelischen Kulturtage, und weiß: Es gibt in der Fläche viel Engagement - aber auch viel zu tun. Denn:
"Der jüngste Thüringen-Monitor, den wir jetzt haben, zeigt, das der primäre Antisemitismus eigentlich gar nicht angestiegen ist bei uns. Wir haben so einen Sockel von neun bis zehn Prozent. Aber wir haben ein Drittel Zustimmung bei den Bürgern - 'Ich kann verstehen, wenn man etwas gegen Juden hat, wenn ich auf die Politik des Staates Israel sehe'."
Und genau hier setzt auch Ricklef Münnich mit seiner Arbeit an:
"Da gibt es für uns in Deutschland - als Christen oder Nichtchristen - nichts zu verhandeln."-
Sandro Witt ist Vorsitzender des Mobit e.V. - mobile Beratung gegen Rechtsextremismus und für Demokratie. Er sagt: Wir brauchen mehr Räume, "in denen wir darüber reden, was Glauben bedeutet, indem wir darüber reden, was es bedeutet, nicht zu glauben, und indem wir darüber reden, was es für eine Gesellschaft bedeutet, dass es da Menschen gibt, die sich in Teilen auch nicht trauen, nach außen das so zu geben. Da ist die Zivilgesellschaft gefragt. Das ist auch ein Appell meinerseits, die Ohren offen zu halten und aufeinander zuzugehen. Das ist nochmal ein sehr starkes Signal. Man kann sich bei der Jüdischen Landsgemeinde auch melden, wenn man Rückfragen hat und man kann auch ins Gespräch kommen. Ich mach das. Ich spreche mit Menschen und hab dann ein besseres Verständnis und sie haben ein besseres Verständnis für mich."
Nicht nur Sandro Witt, der sich ehrenamtlich für jüdische Präsenz engagiert - auch der Theologe Ricklef Münnich fordert dieses Verständnis ein. Denn:
"Judentum in Thüringen ist vor allem auch noch nicht religiöses Judentum. Sie wollen einfach leben und wollen sehen: Wir haben einen Platz in Deutschland und das ist gefährdet immer noch, wie auf einem Glasboden, das kann jederzeit Sprünge und Risse kriegen. Dass der trägt und hält - das ist unsere Aufgabe, die wir als Nichtjuden zu erfüllen haben."
Die 65-jährige Rita aus Odessa ist dankbar für alles und hat einen Wunsch - der, wie sie sagt, eigentlich alle betrifft:
"Gesund und Glück und viele gute Arbeit für alle."