Miles Davis' "So What" von seinem Album "Kind of Blue" (1959):
Ein Gedankenfarbenrausch
Ist Blau eine ganz besondere Farbe und was hat sie mit der Musik von Miles Davis zu tun? Jürgen Goldstein taucht mit seiner Kulturgeschichte "Blau" in eine Farbwelt großer Themen und großer Erhabenheit ab. Eine fantastische Sommerlektüre!
Keine Frage: Vieles fehlt in diesem Buch! Nicht zuletzt Näheres übers Blaumachen des Lustlosen, das Blausein des Trinkers und das Blauwerden beim Sport. Aber das kann gar nicht anders sein. Denn Blau bezeichnet eine Farbe und zugleich ein unerschöpfliches Thema. Deshalb bietet Jürgen Goldsteins Buch keine systematische Einführung und keinen historischen Abriss. In "Blau" öffnet sich vielmehr "eine Wunderkammer seiner Bedeutungen", wie der Untertitel lautet, der im übrigen kulturkritisch gemeint ist.
Das gewollte Durcheinander der Wunderkammern sollte einst Gemüt und Auge ergötzen, es sollte Staunen lehren. Heutige Museen und Sammlungen dagegen lösen das Gewimmel der Dinge in strenger wissenschaftlicher Präsentation auf. Goldstein findet den Verlust "ungeheuerlich" und sieht "in dem Untergang der Wunderkammern den symbolischen Ausdruck eines bedenklichen Siegeszuges des modernen Ordnungswillens".
Staunen und schwärmen
"Blau" beginnt mit dem grandiosen Ausblick von Juri Gagarin im April 1961 an Bord der Wostok. Dem sowjetischen Kosmonauten kam es so vor, "als umgürte eine Folie von zart hellbauer Farbe den Erdball". Die späteren Mond- und Raumfahrer bezeugten, dass die Erde als Ganzes "der blaue Planet" ist und schwärmten in großen Worten.
Autor Jürgen Goldstein tut es ihnen gleich: Staunen, Schwärmen und Begeisterung sind seine Modi. Für ihn haben Yves Kleins Blau-Monochrome nicht weniger als "die Magie der Welt zusammengefasst". Rasch überträgt sich der Eindruck, dass die Farbe Blau in privilegierter Verbindung zu den großen Themen steht und das Erhabene bevorzugt durch Bläue erscheint.
Naheliegenderweise untersucht Goldstein auch Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer". Seit das Gemälde 2006 restauriert wurde, erstrahlt das einst ergraute Blau des Himmels wieder in alter Kraft. Laut Goldstein überwiegt nun nicht mehr der melancholische Eindruck, sondern "der Augenblick einer Lichtung, einer hoffnungsvollen Aufklarung".
Blau und die Musik
Goldsteins Ausführungen sind kompetent, stilistisch elegant, stets in überraschende Verbindungen und interessante Details verliebt. Insbesondere die Essays über das Blau in der Musik von Miles Davis, George Gershwin und Jim Morrison verdeutlichen: Der Bedeutungs- und Assoziationspool dieser – wie wohl jeder – Farbe ist höchst individuell.
Goldstein präsentiert auch persönliche Vorlieben. Im Essay "Mit John Lennon auf hoher See" geht es nicht einmal um Blau, blau ist nur der mitgedachte Hintergrund. Ganz anders im Fall der "Blue Jeans", Rainer Maria Rilkes "Blauer Hortensie" oder der Blauen Mauritius - warum sie in "Blau" auftauchen, ist evident. Stets wimmelt es vor erlesenen Zitaten, etwa von Paul Klee: "Das ist der glücklichen Stunde Sinn: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler." Strand-Aficionado Albert Camus, der Goldstein übers "existenzialistische Blau" nachdenken lässt, hat behauptet: "Man kann sein Leben nicht verfehlen, wenn man es ins Licht stellt."
"Blau" ist ein Gedankenfarbenrausch. Das ergreifende Kapitel über die spätere Selbstmörderin Virginia Woolf heißt "Ins Blaue hinein leben". Goldsteins Buch ermöglicht, was unbedingt dazu gehört, nämlich ins Blaue hinein lesen. Prima Sommerlektüre!
Jürgen Goldstein: Blau. Eine Wunderkammer seiner Bedeutungen
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017
233 Seiten, 20 Euro