Jürgen Habermas: "Auch eine Geschichte der Philosophie"
Suhrkamp Verlag, Berlin
2 Bände, 1752 Seiten, 98 Euro
Vom Glauben zum Wissen
15:51 Minuten
Mit 90 Jahren legt Jürgen Habermas eine monumentale Philosophiegeschichte vor. Im Zentrum stehen der Konflikt zwischen Glauben und Wissen und das abendländische Denken: Nicht-westliche und feministische Philosophie bleiben außen vor.
Im Alleingang eine Geschichte der Philosophie schreiben – was sich der Meisterdenker Jürgen Habermas vorgenommen hat, sei heute ein geradezu "unmögliches Unterfangen", betont Josef Früchtl, Philosoph in Amsterdam, der die 1700 Seiten vor dem Erscheinungstermin des Buches (11. November) lesen konnte: "Die Manier, in der Philosophiegeschichte noch im 19. Jahrhundert möglich war, dass ein Einzelner drei Bände vorlegt und die gesamte Geschichte der Philosophie beschreibt, das überfordert einen Einzelnen schlichtweg, weil es Berge von Forschungsliteratur gibt, die ein Einzelner in seinem Leben gar nicht bewältigen kann."
Philosophie als Lernprozess
Für Früchtl, der bei Habermas studiert hat, kam ein solches Vorhaben auch aus einem anderen Grund überraschend – schließlich ist Habermas eher als Theoretiker denn als historischer Denker bekannt. Dementsprechend sei das Buch auch keineswegs eine schulbuchartige Chronologie des philosophischen Denkens, sondern folge einer zentralen These: "Dass die Philosophie ein Lernprozess ist, entstanden aus dem Konflikt zwischen Glauben und Wissen."
Diesen Prozess verfolgt Habermas durch die europäische Geistesgeschichte seit der Antike und versucht dabei zu zeigen, "dass und wie die Philosophie eine Übersetzung der religiösen Gehalte in die Philosophie vornimmt". Dieses Erkenntnisinteresse führe dazu, dass Habermas neben Autoren, die man aus seinen früheren Werken kennt – Kant, Hegel, Marx, Adorno, Horkheimer –, auch solche Denker in den Blick nimmt, die in seinen bisherigen Schriften kaum eine Rolle gespielt haben: etwa Augustinus oder Thomas von Aquin.
Abwehr oder Übersetzung der Metaphysik?
Den entscheidenden und bis heute prägenden Bruch mit der "metaphysisch-religiösen Tradition der Philosophie" verorte Habermas im 17. Jahrhundert, bei René Descartes und Thomas Hobbes. Fortan gilt, so Früchtl: "Philosophie ist verpflichtet auf strenge Argumentation, auf Begriffsanalyse, auf analytische Klarheit. Wir können uns nicht mehr anmaßen, die Welt im Ganzen mittels eines metaphysischen Prinzips zu erklären."
Für die Philosophie ergebe sich daraus eine klare Alternative: "Entweder wir lassen diesen Anspruch, das Ganze zu denken, vollkommen beiseite – oder wir versuchen, diesen Anspruch in die Philosophie zu übersetzen. Den zweiten Weg geht Habermas."
Männlicher, europäischer Kanon
Eine Schwäche des Buches sieht Früchtl allerdings in der Konzentration auf den klassisch abendländischen, männlichen Kanon der Philosophie: Die nicht-westliche und feministische Philosophie lasse Habermas außen vor. Immerhin sei sich Habermas dieser Auslassung bewusst und entschuldige sich dafür, sagt Früchtl und wirbt zugleich um Verständnis: "Wer soll denn so eine globale Geschichte der Philosophie schreiben, wenn schon die Geschichte der abendländischen Philosophie für einen Einzelnen beinahe nicht mehr möglich ist?"
Dass sich Habermas der notwendigen Unvollständigkeit seines Unterfangens bewusst ist, steckt bereits im bescheidenen Titel des Werkes: "Auch eine Geschichte der Philosophie" soll es sein – und eben nicht "die" Geschichte.
Philosophische Verunsicherung
In diesem vorsichtigen, tastenden Ringen mit der Philosophiegeschichte erkennt Früchtl nicht zuletzt einen Versuch, aus einer grundlegenden Verunsicherung heraus neu zu bestimmen, was Philosophie eigentlich ist:
"Ob Philosophie noch, wie Kant sagte, unter der Frage zusammengefasst werden kann, ‚Was ist der Mensch?‘ – die Zweifel darüber sind ja enorm. Und auch bei Habermas leuchtet mir ein, dass er sagt: Ich kann diese Zweifel, wenn überhaupt, nur beschwichtigen, indem ich eine ganz große historische Geste vollziehe."