Ein Leben mit Brüchen
Das Buch feiert anlässlich des 85. Geburtstags des Philosophen Jürgen Habermas den Intellektuellen, dessen Weg nicht geradlinig verlief. So brachte ihn eine Sprachstörung dazu, sich besonders für Kommunikation zu interessieren.
Stephan Karkowsky: Jürgen Habermas ist nichts weniger als der bedeutendste lebende deutsche Philosoph, verehrt im In- und noch mehr im Ausland. Sein Ruhm selbst ist berühmt, schrieb der US-Philosoph Ronald Dworkin. Der Oldenburger Soziologe Stephan Müller-Doohm hat Leben und Werk Habermas' jahrzehntelang verfolgt und sogar ein eigenes Habermas-Archiv aufgebaut. Daraus schöpft er nun reichlich in seiner bei Suhrkamp erschienenen Habermas-Biografie. Herr Müller-Doohm, guten Morgen!
Stephan Müller-Doohm: Guten Morgen!
Karkowsky: Gleich im Vorwort schränken Sie genau ein, was Ihre Biografie will und was nicht. Zum Beispiel wollten Sie nicht den eher unbekannten Privatmann Habermas ins Zentrum stellen. Warum eigentlich nicht?
Keine Schlüsselloch-Perspektive
Müller-Doohm: Ja, das stimmt nicht so ganz. Das Private spielt natürlich auch bei Habermas eine Rolle, aber nur insofern, als es relevant ist für seine politische Philosophie und für seine Sozialtheorie. Ich war nicht interessiert, sozusagen die Schlüsselloch-Perspektive einzunehmen. Das versteht sich eigentlich auch von selbst, denn wir haben es hier ja - und das ist die Ausnahme bei solchen Biografien – mit einer noch lebenden Person zu tun, und zwar einer Person, die noch aktiv in der Zeitgeschichte drinsteckt und sich einmischt in die politischen Belange und Prozesse.
Karkowsky: Ich las in einer DPA-Rezension Ihres Buches, es gäbe vermutlich nicht viel Spektakuläres zu erzählen über den Privatmann Habermas. Glauben Sie das auch?
Müller-Doohm: Ja, er hat ja selber von seinem Leben gesagt, es sei unheroisch verlaufen. Aber ich habe schon festgestellt, als ich dann tiefer eingestiegen bin in die Forschung, in die Untersuchung seiner verschiedenen Lebensphasen, dass es doch auch ein Leben mit Brüchen war. Man sieht immer nur sozusagen das Positive zunächst, wenn man auf den ersten Blick draufschaut, nämlich die akademische Karriere, die sensationell ist.
Aber wie gesagt, es gibt auch Brüche. Das fängt an damit, dass damals, als er in Frankfurt Assistent von Adorno war, mit Horkheimer nicht klar kam. Horkheimer wollte ihn nicht habilitieren, er musste ausweichen nach Marburg zu Wolfgang Abendroth. Dann war er ja ...
Karkowsky: ... und wenn ich da einwerfen darf - anschließend hat er Horkheimers Lehrstuhl übernommen.
Müller-Doohm: Er hat dann noch Horkheimers – das ist Ironie der Geschichte – Lehrstuhl übernommen. Aber auch da gab es dann später, als Adorno gestorben war und es um die Nachfolge von Adorno ging, gab es dann Konflikte mit den Frankfurter Alteingesessenen. Er hatte Kolakowski vorgeschlagen, und das stieß eben nicht auf Zustimmung.
Er ging dann nach Starnberg ans Max-Planck-Institut und hat dort zehn Jahre als Direktor gewirkt, aber am Schluss sozusagen das Handtuch hingeschmissen und selbst dann von dieser Zeit gesprochen als einer auch Zeit des Scheiterns, obwohl sehr viel sehr produktive Sozialforschung dort betrieben worden ist und in dieser Zeit auch sein Hauptwerk entstanden ist.
Aber auch hier muss man sehen: Das lief alles nicht so glatt. Es gab immer wieder Zäsuren und Einbrüche. Darauf bin ich gestoßen bei meinen Recherchen.
Ehe und Familie als Grundpfeiler der Kreativität
Karkowsky: Habermas hat gerade in einem Interview mit der "Berliner Zeitung" und der "Frankfurter Rundschau" die eigene Familie, seine fast 60jährige Ehe und die drei Kinder, als eigentlich relevante Stimuli bezeichnet. Das hat mich natürlich neugierig gemacht. Hat er Sie denn eigentlich gebeten, das Private außen vor zu lassen?
Müller-Doohm: Nein. So war unsere Beziehung überhaupt nicht, dass er irgendwas erbeten hätte. Ich meine, eine Biografie über ein Leben zu schreiben, ist immer eine Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe. Aber ich glaube, es ist uns gelungen, beiden, da die richtige Nuance zu finden, also nicht in die Position desjenigen zu kommen, der hier gewissermaßen eine Auftragsarbeit schreibt, sondern der sich auch sehr kritisch auseinandersetzt mit dem Leben von Habermas und vor allem mit seiner Philosophie und – das steht im Zentrum – mit seiner intellektuellen Praxis, nämlich seiner Wirkung als öffentlicher Intellektueller. Das hat mich in erster Linie interessiert.
Karkowsky: Ein Punkt seines Privatlebens, das wichtig ist für sein Werk, ist die Kommunikation. Sein Leben lang hat Habermas sich eingesetzt für das Verständnis der Menschen untereinander. Und da schreiben Sie, das könnte eine Folge sein seiner Sprachbehinderung. Stellt Habermas das selbst auch so dar?
Müller-Doohm: Ja, das hat er selbst in der Kioto-Rede so dargestellt, dass die Sprachbehinderung bei ihm mit ein Auslöser dafür war, sich für Kommunikation zu interessieren, aber auch, den geschriebenen Text höher zu bewerten als das gesprochene Wort. Aber auch die Diskriminierungserfahrungen, die aus der Sprachbehinderung folgen, haben ihn darauf gestoßen, sich für Normativität einzusetzen, für Phänomene der Ausgrenzung und so weiter.
Karkowsky: Sie hören den Habermas-Biografen Stephan Müller-Doohm. Wir reden über die jetzt erschienene Biografie zum 85. Geburtstag von Jürgen Habermas. Herr Müller-Doohm, Ihre Biografie soll eines auch nicht sein, nämlich eine Biografie seines Werkes, oder?
Leben ist mehr als ein Stapel von Büchern
Müller-Doohm: Na ja, das geht nicht. Ich meine, Habermas lebt über seine Philosophie, über seine Sozialtheorie, über seine Bücher. Aber das Leben ist mehr als ein Stapel von Büchern, das kann man schon sagen. Aber man kann keine Biografie über Habermas schreiben, ohne eben diese breit aufgestellte Philosophie zu rezipieren. Das habe ich auch versucht, und zwar in einer Art und Weise, dass ich versucht habe zu zeigen, wie sehr Habermas reagiert auf zeitgeschichtliche Phänomene, auf zeitgeschichtliche Veränderungen, und dass diese Philosophie eigentlich etwas reflektiert, was schon für die Hegelsche Philosophie eine große Rolle gespielt hat, nämlich die Phänomene der Zeit.
Karkowsky: Zwei Fragen stellen Sie Ihrer Annäherung an Habermas voraus. Die erste: Wie wurde Habermas zum Philosophen der kommunikativen Vernunft? Und die zweite: Wie wurde er zum einflussreichen öffentlichen Intellektuellen? Können Sie denn nach jahrzehntelanger Recherche nun beide beantworten?
Müller-Doohm: Das ist sehr schwierig in einem Satz zu beantworten. Ich möchte mal was Biografisches ins Spiel bringen. Habermas hatte nämlich zunächst noch, als er dabei war, sein Abitur zu machen, vor, Medizin zu studieren. Aber die Erfahrung dann, in einem kriminellen Regime gelebt zu haben, die Erfahrung von Völkermord und mit dem Problem der deutschen Vergangenheit, die zeitgeschichtliche Erfahrung, die ihn wirklich bedrängt hat, hat ihn erst dann dazu gebracht, diese Studienpläne zu verändern und sich der Philosophie und Psychologie und politischen Theorie und so weiter zuzuwenden. Also Sie sehen hier, wie sehr auch das Lebensgeschichtliche hineinspielt in die philosophische Orientierung von Habermas.
Das Politische hat ihn von je her angetrieben, und das hat auch zu tun unter anderem mit der Frage der deutschen Schuld, also nie wieder Auschwitz. Die politische Praxis von Habermas, die Tatsache, dass er sich immer wieder ins politische Handgemenge eingemischt hat, ist auch Konsequenz seiner politischen Philosophie, in deren Mittelpunkt Öffentlichkeit oder kommunikative Vernunft steht. Er will diese kommunikative Vernunft durch den öffentlichen Gebrauch der Vernunft auf die Probe stellen, und da ist er sehr, wie ich schon sagte, konsequent.
Karkowsky: Haben Sie denn Licht werfen können auf die Kritik an Habermas, er wolle eigentlich gar nicht, dass seine Thesen in einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden? Er selbst hat ja gesagt, er wollte einfach nur bestimmte Gedanken in der Öffentlichkeit platzieren.
Müller-Doohm: Das ist vielleicht ein Stück weit typisch für Habermas, sich kleiner zu reden, als er dann wirklich ist. Ich meine, er setzt auf den zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Er weiß, dass wir uns alle im Raum der Gründe bewegen und dass wir durch die guten Argumente überzeugen müssen. Er weiß ja, oder nein, er weiß nicht nur: Er vertritt ja die These, dass Argumentation das einzig verfügbare Medium der Wahrheitsvergewisserung ist, auch der Vergewisserung der Richtigkeit von Normen, und es kommt ihm schon darauf an, sich sozusagen auch gegen andere Gesinnungsgemeinschaften durchzusetzen, ohne dass er deshalb die eigene Gesinnungsgemeinschaft geschont hätte.
Karkowsky: Und wenn Sie ein zugegebenermaßen triviales Ranking machen müssten für seine meist zitierten Argumente, ist es das eben zitierte, der zwanglose Zwang des besseren Arguments, ist es der Verfassungspatriotismus - oder was würden Sie da nennen?
Ranking von Habermas-Zitaten
Müller-Doohm: Ja der zwanglose Zwang des besseren Arguments, das ist natürlich eine Kantsche Idee, die er, wenn man so will, popularisiert hat, um es etwas überspitzt zu formulieren. Aber es gibt so viele, neue Unübersichtlichkeit, so viele Formen, die er über die Jahrzehnte hinweg lanciert hat, dass man gar nicht weiß, was man da auswählen sollte, wenn man da vor der Wahl stünde.
Karkowsky: Habermas sagt noch einmal im Gespräch mit der "Frankfurter Rundschau", er habe Angst, Ihre Biografie zu lesen, obwohl er Sie sehr schätzen würde. Haben Sie Angst vor seinem Urteil?
Müller-Doohm: Nein. Sein Urteil kenne ich noch nicht in der ganzen Breite, aber ich habe mich ja nicht nur auf seine Aussagen gestützt, sondern habe ja über die Jahre hinweg ein Archiv aufgebaut, und das war die Grundlage meiner Biografie, die dadurch auch einen gewissen Objektivitätsanspruch zu erfüllen vermag, eben weil ich mich auf die Quellen, auf die Korrespondenzen, auf Aussagen von Weggefährten und Zeitgenossen bezogen habe.
Karkowsky: Der Philosoph Jürgen Habermas wird heute 85 Jahre alt. Sie hörten dazu seinen Biografen, den Oldenburger Soziologen Stephan Müller-Doohm. Ihnen danke für das Gespräch! Und die Habermas-Biografie ist erschienen bei Suhrkamp, sie hat 750 Seiten und kostet 29,95 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.