"Er ähnelt dann eher Messi und hat nichts von Ronaldo"
Lutz Wingert, Professor für Philosophie an der ETH Zürich und einer der längsten wissenschaftlichen Weggefährten von Jürgen Habermas, würdigt den Philosophen anlässlich dessen 85. Geburtstag. "Er ist bescheiden, der Ruhm ist ihm nicht so in den Kopf gestiegen", sagt Wingert.
André Hatting: Jürgen Habermas ist der berühmteste lebende deutsche Philosoph. Sein Hauptwerk, "Theorie des kommunikativen Handelns" ist vielfach übersetzt und rezitiert worden. Als Schüler von Theodor W. Adorno gehört Habermas zur sogenannten zweiten Generation der Frankfurter Schule, aber anders als sein Lehrer hat sich Habermas immer auch als engagierter Intellektueller verstanden, sich öffentlich zu Wort gemeldet - Historikerstreit, NATO-Einsatz, Stammzellenforschung, Europäische Union.
Heute wird Jürgen Habermas 85 Jahre alt, und einer der letzten Assistenten aus Habermas' Lehrtätigkeit ist Lutz Wingert. Heute ist er Professor für Philosophie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Guten Morgen, Herr Wingert!
Lutz Wingert: Guten Morgen!
Hatting: Seit fast 30 Jahren arbeiten Sie mit Jürgen Habermas zusammen. Wie sind Sie eigentlich ursprünglich auf ihn aufmerksam geworden?
Wingert: Da steckte ich noch in den Kinderschuhen. Wenn ich mich recht erinnere, war das als Schüler Anfang der 70er-Jahre - ich bin Jahrgang 1958 -, und ich hörte einen langen Radioessay von Studio Heidelberg. Also schon damals Radio.
Und der Autor dieses Essays trug komplizierte Gedanken vor, Gedanken über die moderne Gesellschaft, darüber, welche Rolle Macht und Recht und Moral für eine soziale Ordnung spielen könne. Der Autor dieses Radiovortrags war dann eben Jürgen Habermas.
Ich muss der leicht näselnden, energischen und doch nicht metallischen Stimme ziemlich gespannt zugehört haben. Warum? Nun, ein Onkel von mir, der zufällig anwesend war, verhielt sich nämlich mucksmäuschenstill.
Und das war eigentlich untypisch für ihn, denn er war Major bei der Bundeswehr und also eher für lautstarke Kommandos bekannt. Ich glaube übrigens nicht, das er mehr begriff als, dass die Sache für mich irgendwie wichtig war, und deshalb war er ausnahmsweise mal still.
Hatting: Sie haben gerade gesagt, das seien komplizierte Sachverhalte gewesen, trotzdem kam es dann ja später zu einer wissenschaftlichen, sehr, sehr langen Zusammenarbeit mit Jürgen Habermas. Wie ist die entstanden?
"Er ist ziemlich gut darin, Diskussionszusammenhänge zu organisieren"
Wingert: Ja, mit Glück und Zufall, aber natürlich nicht ganz zufällig. Ich beschäftigte mich in meinem Philosophiestudium, übrigens nicht bei Habermas, sehr intensiv mit so deutschen Philosophen wie Kant und Hegel aus dem 18. Jahrhundert, und Habermas wurde auf mich und diese Arbeiten über, ja, meine akademischen Lehrer aufmerksam, die zum Teil seine Assistenten waren, also eine lange Kette von Verbindungen.
Und dann hat Habermas gemeint, nun, das, was ich da mache, könnte ja für eine Doktorarbeit interessant sein, und so eine Doktorarbeit würde für ihn wichtig sein, die würde in seinen eigenen Forschungen ihn weiterbringen. Und das zeigt schon ein Charakteristikum von Jürgen Habermas an: Er ist ziemlich gut darin, Diskussionszusammenhänge zu organisieren und ganz verschiedene Leute zusammenzubringen, immer mit dem durchaus eigennützigen Motiv, Leute zu haben, die ihn in seiner Forschung weiterbringen. Aber er hat dann auch den Blick für verschiedene Talente, verschiedene Perspektiven, die er dann so bündelt, dass es für ihn auch etwas bringt in der Forschung.
Hatting: Jetzt haben Sie schon ein sehr prägnantes Merkmal von Jürgen Habermas genannt, nämlich das Organisieren von Diskussions- oder Kommunikationszusammenhängen, vielleicht würde man das heute so neudeutsch Networking nennen. Was ist denn noch eine auffällige Eigenschaft von Jürgen Habermas.
Wingert: Wenn ich das kurz noch bemerken darf, Networking ist es nicht, denn es ist nicht motiviert von Karrierezielen, sondern es ist motiviert von der Einsicht, dass eigentlich auch in der Philosophie die Zusammenarbeit, in gewisser Weise das Team wichtig ist.
Insofern arbeitet der Habermas merkwürdigerweise praktisch sehr wie ein Naturwissenschaftler, der ein Labor hat. Aber zu Ihrer Frage, was sind weitere Charakteristika von ihm? Nun, er ist ein guter Zuhörer. Er weiß also dann schon sehr viel herauszuhören aus dem, was Leute sagen, kann das aufnehmen und verarbeitet das dann allerdings sehr eigenwillig für seine eigenen Ziele. Das ist eine Tugend. Eine andere – er ist, glaube ich, sehr orientiert an Gleichheit. Also, er ist sehr gleichheitsorientiert.
Das könnte man so heute aktuell mit Blick auf die Weltmeisterschaft sagen, er ist bescheiden, der Ruhm ist ihm nicht so in den Kopf gestiegen, nicht allzu sehr, und er ähnelt dann eher Messi und hat nichts von Ronaldo. Er hat ja zahlreiche Ehrendoktorwürden, darunter auch eine von der Harvard University bekommen, und da war Smoking- oder Frack-Zwang.
Und er erzählte mir, dass er sich eigentlich geweigert hat, das zu machen, und sagte, dann nehme ich eben nicht den Doktorhut entgegen. Daraufhin hat seine Frau ihm dann gesagt, du willst doch nur 'ne Extrawurst. Und damit hat sie ihn gepackt. Das heißt, er will keine Extrawurst, er will nicht aus der Reihe ausscheren, wenn denn das Ausscheren nicht gute Gründe hat.
Also das ist sicher eine starke Tugend von ihm. Das drückt sich dann auch darin aus, dass er eigentlich ohne Ansehen der Person diskutiert. Ob das ein berühmter Kollege ist oder ein junger Mann oder eine junge Frau, die jetzt erst im dritten Semester sind, da macht er keinen Unterschied. Das klingt jetzt so, als ob Habermas ein Heiliger wäre. Das ist falsch, er ist kein Heiliger.
Hatting: Sie haben viel über die Persönlichkeit Habermas' gesprochen. Worin besteht eigentlich für Sie seine wissenschaftliche Leistung?
"Habermas ist kein Heiliger"
Wingert: Das ist eine schwierige Frage, weil ich natürlich auch mitten drin bin. Der Kerngedanke seiner Philosophie ist Folgender: Keine soziale Macht kann sich allein auf Bajonette stützen, will sagen, keine Macht kann sich allein auf die Androhung von Gewalt oder von etwas Schlechtem stützen.
Die Menschen müssen also die Macht auch für rechtens halten, und das ist noch nicht das Neue. Aber jetzt kommt es: Nämlich der Gedanke, in dem Moment, in dem das Einverständnis jetzt nicht mehr einfach gegeben ist, einfach vorausgesetzt werden kann, so wie die Eltern plötzlich von Heranwachsenden mit Nachfragen konfrontiert werden oder gar auf Kopfschütteln und Eigensinn stoßen - in dem Moment wird das, sagen wir mal, das Miteinandersprechen nötig.
Und jetzt kommt dann der sprachphilosophische Gedanke, dass mit diesem Miteinandersprechen die Saat der Kritik gesät ist. Und eine Kritik, die kann dann auch befreiend oder verbessernd wirken. Muss nicht, aber kann. Und das ist dann der Kerngedanke, der auch kultiviert werden muss und der auch, glaube ich, sehr vielversprechend ist, und Habermas hat ihn auch selber schon ausgebaut.
Der Gedanke, dass die Sprache oder besser das Miteinandersprechen das Gegenteil von stummer Gewalt ist, und dass darin auch schon eine, ja, vielleicht praktizierte utopische Ahnung steckt. Welche Ahnung? Nun, dass die Menschen, wie er einmal ähnlich formulierte, in befriedender Geselligkeit streitend, aber eben nicht sich gegenseitig zerstörend ihre Verhältnisse ein bisschen gerechter, menschenfreundlicher gestalten könnten.
Hatting: Lassen Sie mich, Herr Wingert, ein Wort aufgreifen aus dem, was Sie gerade gesagt haben, das ist die Kritik. Habermas hat sich sehr oft in gesellschaftliche Debatten eingemischt. Warum ist ihm das so wichtig?
Wingert: Es gibt ein irdisches Motiv: Habermas ist ja, wie gesagt, kein Heiliger. Der Wunsch, eine öffentliche Rolle zu spielen. Aber dann kommt hinzu ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein. Und das hat natürlich – Habermas ist ja Jahrgang '29 – mit der Erfahrung zu tun, dass die Eliten, Wissenschaftler, Intellektuelle, aber auch Verwaltungsbeamte im Nazireich zwischen '33 und '45 völlig versagt haben moralisch, und auch danach durch das Totschweigen der Naziverbrechen. Und Habermas hat sich wohl geschworen, dass er nicht diesem Versagen der Eliten, wegzuschauen und nicht Kritik zu üben, den Mund zu halten, dass er dem nie folgen wird.
Hatting: Zum 85. Geburtstag von Jürgen Habermas ein Gespräch mit Lutz Wingert, Professor für Philosophie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und langjähriger wissenschaftlicher Weggefährte von Habermas. Herr Wingert, ich bedanke mich herzlich!
Wingert: Ja, ich bedanke mich auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.