Historiker Jürgen Kocka
Jürgen Heinz Kocka ist ein deutscher Sozialhistoriker und emeritierter Professor an der Freien Universität Berlin. © imago / ZUMA Wire / Daniel Jayo
Die unheimliche Kraft des Nationalstaats
37:07 Minuten
Spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine scheint die alte Welt roher Machtstaatlichkeit wiedergekehrt zu sein – die Welt des 19. Jahrhunderts und des Nationalismus. Für den Historiker Jürgen Kocka ist der Nationalstaat trotzdem nicht überholt.
Der Nationalstaat verlange ungeheuer viel von seinen Bürgern – bis hin zur Opferung des eigenen Lebens. Aber er verspreche auch Gleichheit und Teilnahmemöglichkeiten am politisch-gesellschaftlichen Leben, betont der Historiker Jürgen Kocka, emeritierter Professor an der Freien Universität Berlin und ehemaliger Direktor des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB):
"Eigentlich sind einigermaßen funktionierende Demokratien bisher nur in Nationalstaaten entstanden, nicht in überstaatlichen Strukturen. Wir sehen, dass demokratische Teilhabe durch Wahlen, durch demokratische Repräsentation, auch durch Volksentscheide am ehesten im nationalstaatlichen Rahmen gelingt."
Das Janusgesicht des Nationalstaats
Andererseits habe der Nationalstaat ein Janusgesicht: Er könne auch in Diktaturen und Populismus zum Fetisch für Scheinpartizipation und dann meistens auch aggressiv werden.
Schon am Anfang, in der Französischen Revolution habe sich gezeigt: Einerseits habe die Idee der Nation Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – Geschwisterlichkeit - versprochen, andererseits habe die Idee eine Gesellschaft zusammengezwungen und habe zur kriegerischen Expansion geführt.
In der Entstehung, aber auch noch heute, müsse man den Nationalstaat immer im Zusammenhang mit Krieg denken:
"Das lange 19. Jahrhundert endete bekanntlich in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Der Nationalismus gehört zu den wichtigsten Antreibern des Weges hinein in den Krieg."
Zivilisatorische und aggressive Kraft zugleich
Andererseits verweist Kocka darauf: Im 19. Jahrhundert habe sich gezeigt, dass der Nationalstaat große Kräfte zivilisatorischer Art entfaltet habe.
Das kriegerische Potenzial des Nationalstaats hingegen müsse gebändigt werden:
"Die äußere Aggressivität ist als eine starke Möglichkeit im Nationalstaat angelegt, bis heute. Deswegen ist es so wichtig und man lernt es aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts, dass man über den Nationalstaat hinauskommt, dass man transnationale und internationale Verknüpfungen hinkriegt. Auch heute sollen wir uns nicht darüber täuschen, dass der Nationalstaat weiterhin, vielleicht nicht im deutschen Fall, diese Möglichkeit in sich birgt, zu internationalen Kämpfen zu führen."
(wist)