Jürgen Krusche (Hrsg.): "Die ambivalente Stadt. Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Raums"
Jovis Verlag, Berlin 2017, 176 Seiten, 28 Euro
Die sichere Stadt ist ein Widerspruch in sich
Die sichere Stadt erscheint als das Ideal der urbanen Entwicklung. Jürgen Krusche allerdings verweist mit seiner Aufsatzsammlung "Die ambivalente Stadt" dieses Ideal in die Sagenwelt. Städte sind per se gefährliche Orte, denn hier herrsche Differenz, Diversität und Reizüberflutung. Dies gelte es zu beherrschen.
Die "offene Stadt" - sie ist kein Modell der Gegenwart oder Zukunft, sondern eines der Vergangenheit, heißt es im soeben im Berliner Jovis Verlag erschienen Buch, das unseren Umgang mit dem öffentlichen Raum ins Visier nimmt. "Die ambivalente Stadt" heißt es und das Fazit der Beiträge aus Soziologie, Kulturwissenschaft und Architektur ist wenig rosig: Heute wird nicht integriert, sondern separiert. Das Ideal einer demokratischen Gesellschaft der Teilhabe ist der Forderung nach Sicherheit und Kontrolle gewichen. Ob die Städte in Mitteleuropa tatsächlich unsicherer werden, ist dabei zweitrangig. Was zählt, ist das Gefühl der Bedrohung.
Sicherheit und Kontrolle statt Zusammenleben
Doch die Forderung nach einer sicheren Stadt, so die Grundthese, ist schon im Ansatz falsch. Denn Städte sind notwendig gefährliche(re) Orte. Das ist historisch gesehen zwar anfechtbar, bedenkt man ihre Entstehung als wehrhafte Siedlungsform, aber mit Blick auf die Gegenwart überzeugend. Risiko und Gefahr sind untrennbarer Teil jener Eigenschaften, die Städte heute auszeichnen: große Differenz, Diversität, Dichte, Reizüberflutung, individuelle Freiheit und Anonymität. Genau das bedingt ihren ambivalenten Charakter, so die Autorinnen und Autoren. Sie sind damit Erben des Ahnherrn der Stadtsoziologie, Georg Simmel, dem die explosionsartig wachsenden Metropolen im Europa der Jahrhundertwende als Beispiel dienten.
Aber nicht nur die sichere Stadt ist ein Widerspruch in sich. Eine Stadt ohne Migration und Integration ist es ebenfalls. Überall sind Städte von Kommen, Gehen und Bleiben geprägt, nicht von Sesshaftigkeit, stellt der Soziologe Erol Yildiz am Beispiel des Innsbrucker Stadtteils Sankt Nikolaus klar. Bei manchen Bevölkerungsgruppen gilt das als hochgeschätzte Mobilität, bei anderen als bedrohliche Migration. Allerdings hat das Gefühlt der Gefährdung ohnehin einen anderen Grund, so die Kulturwissenschaftlerin Johanna Rolshoven: die Schwächung des Sozialstaats. Der auf Gewinnmaximierung fixierte Blick des neoliberalen Kapitalismus lässt dessen wichtigste Eigenschaft vergessen, die Verteilungsgerechtigkeit. Hierin liege der wahre Ursprung für das Gefühl wachsender Unsicherheit.
Jenseits des "Urban Gardening"
Doch ist es nicht nur der gegenwärtige Wettstreit zwischen Freiheit und Sicherheit, der dem von Jürgen Krusche herausgegebenen Buch Aktualität verleiht. Auch die Beiträge aus der Praxis, so über den gemeinschaftlichen Gemüseanbau in deutschen Großstädten oder über die sogenannten Nachbarschafts-Hotspots in den Slums von Lagos, die eine Grundversorgung mit Sanitäranlagen, Biogas und Kühleis sichern sollen, entspringen der Gegenwart. Der Fokus dieser Beispiele, von denen man gerne noch weitere lesen würde, liegt allerdings nicht auf jenen europäischen Ländern, denen sich die theoretischen Beiträge mit ihrer düsteren Bestandsaufnahme widmen. Vor ihrem Hintergrund hätte das Aufzeigen hiesiger Widerstände gegen das festgestellte Sicherheits- und Profitbestreben besonders interessiert, jenseits des viel diskutierten "Urban Gardening".