Jürgen Nendza: „Auffliegendes Gras“

Suchschnitte ins Gelände

33:53 Minuten
Das Cover des Buches von Jürgen Nendza, "Auffliegendes Gras". Es zeigt die Schatten großer Vögel im Flug, auf dem Boden ist ein Muster zu erkennen.
© Poetenladen

Jürgen Nendza

Auffliegendes GrasPoetenladen, Leipzig 2022

71 Seiten

18,80 Euro

Von Nico Bleutge |
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Zungenblüten und Zungenblühen: Der Dichter Jürgen Nendza gräbt sich mit der Sprachschaufel durch die Landschaft. Seine Verse können genauso das Rascheln einer Amsel festhalten wie Spuren des Zweiten Weltkriegs.
Graben ist eine mühsame Tätigkeit. Je weiter man sich in den Boden vorarbeitet, desto dichter scheinen die Erdschichten zu werden. Und desto leichter droht man mit der Schaufel abzurutschen. „Du schabst, sackst / ab“, heißt es in einem frühen Gedicht von Marcel Beyer. Und wie viele Schreibende vor ihm benutzt Beyer den Vorgang des Grabens als Bild für das eigene poetische Tun.

Schürfstellen von Tobago bis Aachen

Der Dichter Jürgen Nendza kennt sich ebenfalls mit dem Abtragen von Schichten aus. Mit seiner Sprachschaufel gräbt er von jeher in versandeten Arealen. Seine Schürfstellen kann er genauso auf Tobago finden wie im Grenzland um Aachen, wo er seit langem wohnt.
Gleich im ersten Zyklus seines neuen Gedichtbandes sondiert er die verschwindenden Landschaften und Dörfer des Rheinischen Braunkohletagebaus. Es ist eine versehrte Gegend, in der sich die riesigen Schaufelradbagger an den Bruchkanten entlanggraben und für gewaltige „Revierverluste“ sorgen:

"Gebundene
Schwebstoffe, Lehm,

schaufelnde Schaufeln.
Immer bleibt etwas
stehen in der Luft.“

Festes und schwebendes Versmaterial

Mit den Begriffen „Schwebstoffe“ und „Lehm“ sind nicht nur zwei Substanzen der Umgebung benannt, sondern zugleich die beiden wichtigsten Materialzustände der Verse. Hier das vermeintlich Feste mit seinen historischen Resten, dort das Schwebende, ein Gleiten der poetischen Einbildungskraft, das aber auch ganz nüchtern in der „Betriebsfläche / Luft“ stattfinden kann.
In den „schaufelnden Schaufeln“ ist zudem noch einmal ausdrücklich das dichterische Verfahren markiert, das Nendza am liebsten benutzt: das Aufgreifen und Transportieren von Bild- und Sprachteilchen, die immer so arrangiert werden, dass ein unauflöslicher Rest „in der Luft stehen“ bleibt.
Seine sprachlichen „Suchschnitte“ ins Gelände setzt Nendza nicht nur in der Kölner Bucht, sondern etwa auch auf Kreta. Hier ist alles „durchblutet mit Gedächtnis“, die Wahrnehmungssplitter von Pflanzen und Bodenproben verbinden sich mit historischen Spuren.
Eben noch taucht die Erinnerung an ein Wehrmachtsdepot auf, schon schieben sich Bilder einer Festungsinsel in die Verse. Dazu gibt es Fachbegriffe, mythologische Einsprengsel und die Stimmen anderer Dichtender wie Paul Celan oder Inger Christensen, die Nendza in Formationen aus Rhythmus und Klang verwandelt.

Hausmittel zum Wachwerden

Überhaupt der Rhythmus. Um die Reste und Lücken im Sprechen in die Form der Gedichte einzusenken, verwendet Nendza eine Mischung aus harten Versschnitten und rhythmischen Wechseln. Die Bilder sind mal dicht gefügt, mal anhand von Lautverschiebungen komponiert, in denen „Zungenblüten“ und „Zungenblühen“ ganz nah beisammen liegen können.
Nicht weniger intensiv als die großen Zyklen wirkt das Kapitel „Was zusammenfällt“, eine Sammlung kleiner Gedichte, die einen „Zugang zum Augenblick“ legen. In diesen Versen genügen das Rascheln einer Amsel oder ein Klopfen im Ohr, um die poetische Denkbewegung auszulösen. Manchmal, etwa in Formulierungen wie „Tastatur der Gespräche“ oder „Testbilder vergangener Tage", wirkt die Sprache ein wenig gewollt. Aber das sind Kleinigkeiten. „Etwas fehlt“, heißt es an einer Stelle, „ ein Hausmittel / zum Wachwerden“. Voilà, hier ist es.

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