Jürgen Renn: „Die Evolution des Wissens“

Die Verbreitung von Wissen und die Folgen

05:19 Minuten
Cover von Jürgen Renns Buch „Die Evolution des Wissens“ - weiße Schrift auf grünem Einband.
© Suhrkamp

Jürgen Renn

Die Evolution des Wissens. Eine Neubestimmung der Wissenschaft für das AnthropozänSuhrkamp Verlag, Berlin 2022

1070 Seiten

46,00 Euro

Von Volkart Wildermuth · 28.10.2022
Audio herunterladen
Wissen produzieren, nutzen und weitergeben: Wie organisierten das frühere Gesellschaften? Der Historiker Jürgen Renn schlägt in seinem neuen Buch einen großen Bogen von der Frühzeit bis zur Klimakrise und zeigt: Globalisierung ist ein alter Hut.
Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, wagt in seinem neuen Buch den ganz großen Blick. Zeitlich geht es vom Frühmenschen bis ins digitale Zeitalter, geografisch sind seine Beispiele auf dem gesamten Erdball verortet. Seine Materialfülle kann Renn nur bewältigen, indem er eine theoretische Vogelperspektive einnimmt, die Details nur streift.

Globalisierung gab es schon vor 6000 Jahren

Eine zentrale Einsicht lautet: „Wissen hat nicht nur eine mentale, sondern auch eine soziale und eine materielle Dimension.“ Deshalb zitiert Renn immer wieder Karl Marx, aber auch Jean Piaget. Renn geht es um „Wissensökonomien“, über die Gesellschaften die Produktion, Nutzung und Weitergabe von Wissen organisieren.
Es geht ihm um „herausfordernde Objekte“, die neue Entwicklungen anstoßen und die in „epistemischen Inseln“ recht losgelöst vom Kanon des etablierten Wissens untersucht werden können. Die Begriffe zeigen: Das Buch ist keine leichte Kost.
Konkrete Beispiele werden nur kurz eingestreut. Dabei sind sie faszinierend. Etwa, wenn sie erkennen lassen, dass Globalisierung ein alter Hut ist: „Räder und Wagen verbreiteten sich im 4. Jahrtausend und tauchten mehr oder weniger gleichzeitig an der Nordsee und in Mesopotamien auf.“
Auch Europa und China haben sich immer wieder gegenseitig befruchtet. Im 17. Jahrhundert halfen Jesuiten der Ming-Dynastie bei Kalenderproblemen, um nebenbei das Christentum zu verbreiten. Ein Fehlschlag. „Die Europäer galten als fähige Rechner, doch nicht als Vertreter eines allumfassenden neuen Wissenssystems“.

Nebenwirkungen der Wissenschaft

Ein besonderes Steckenpferd von Jürgen Renn ist die Geschichte der Mechanik. Schon in Grabstöcken wird implizit das Hebelgesetz verwendet. Darüber denkt dann Aristoteles nach und zeitgleich auch chinesische Gelehrte. Galileo nutzt mittelalterliche Diagramme, um die Bewegung neu zu verstehen, und Einstein interpretiert gleich Raum und Zeit neu. Und ermöglicht mit seinen Theorien auch die Entwicklung der Atombombe.
Jürgen Renn spart die Nebenwirkungen der Wissenschaft nicht aus, die eben auch für Kolonialismus, Umweltverschmutzung und Klimawandel mitverantwortlich ist und damit für das Anthropozän. Hier sieht er dringenden Handlungsbedarf. Der letzte Teil des Buches ist deshalb auch mehr Kommentar als Analyse. „Wir müssen, so meine Überzeugung, die Wissenschaft wieder an den Herausforderungen der Menschheit ausrichten“, schreibt er. Was das konkret heißt, bleibt allerdings vage.
Mehr zum Thema