"Wahrscheinlich ist ein Teil von mir unreif geblieben"
In "Was wir nicht wollten" entführen Jugendliche einen Jungen mit Behinderung – nur um die Mutter zu erschrecken, dann gerät alles außer Kontrolle. Der Autor Daniel Höra spricht mit uns über das Verstehen junger Menschen.
Frank Meyer: Eine Gruppe von Jugendlichen entführt einen behinderten Jungen, sie wollen der Mutter dieses Jungen einen Schrecken einjagen, sich an ihr rächen, und eigentlich wollen sie den Jungen nach ein paar Stunden wieder zurückbringen, aber dann gerät diese Entführung außer Kontrolle. Der Autor Daniel Höra erzählt diese Geschichte in seinem neuesten Jugendbuch, "Was wir nicht wollten" ist der Titel. Daniel Höra hat schon eine ganze Reihe von viel gelesenen Jugendbüchern geschrieben, einige davon werden inzwischen als Schullektüre verwendet, und der Autor ist jetzt hier bei uns im Studio. Seien Sie willkommen, Herr Höra!
Daniel Höra: Ja, vielen Dank, guten Morgen!
Meyer: Sie schreiben in einer Anmerkung zu Ihrem Roman, dass sie selbst in einer Sozialbausiedlung am Stadtrand groß geworden sind, da spielt auch dieser Roman, dass Sie auch Ähnliches erlebt haben wie Ihre Figuren. Als Jugendlicher hatten Sie wohl auch mit Polizei und Justiz zu tun, waren Sie auch mal an einer Entführung beteiligt?
Höra: Nein, an einer Entführung war ich nicht beteiligt, also wenn, dann waren das eher so kleinkriminelle Sachen, was jetzt vielleicht auch Schwarzfahren beinhaltet oder solche Dinge. Also ich hab jetzt nichts Schlimmes gemacht, ich saß auch nie Gefängnis.
Meyer: Was von Ihrem Erleben damals – Sie kommen darauf zu sprechen, dass Sie manches davon erlebt haben –, was ist Ihnen so nachgegangen, dass Sie davon jetzt in diesem Buch schreiben wollten?
Höra: Na, das hat wahrscheinlich auch mit dem voranschreitenden Alter zu tun, weil man erinnert sich ja dann doch immer ganz gerne an das eigene Erleben, an die eigene Jugend, Kindheit und so weiter, zieht Resümee, und ich finde es ganz wichtig als Autor, eigene Erfahrungen zu verarbeiten. Also in all meinen Büchern tauchen so eine Art autobiografische Splitter auf, das sind natürlich alles Sachen, die ich erlebt habe beziehungsweise wo ich meine, mich erinnern zu können, was ich erlebt habe – das wird ja auch alles so ein bisschen verfälscht im Laufe der Jahre. Ich wollte einfach mal ganz tief reingehen, in meine Vergangenheit reingehen und das mal beschreiben, wie ich das damals empfunden habe.
Meyer: Und da gibt es da so einen Moment, das ist auch schon vorne auf dem Klappentext abgedruckt, so einen Moment, wo die Jugendlichen so eine Erfahrung machen, dass sie so aus dem Schonraum der Jugend rausfallen, dass auf einmal die Welt brutaler ist, grausamer ist, als sie vorher gedacht haben. Ist das so der Kern dieser Erfahrung, die Sie zu fassen kriegen wollten mit dem Buch?
Verwilderter Bahndamm als Sinnbild für Kindheit
Höra: Ja, das wollte ich rausstellen. Dafür steht ja auch dieser Garten, der Garten beziehungsweise der Bahndamm, wo die Jugendlichen sich aufhalten, das ist ja so ein bisschen Sinnbild für die Kindheit. Das ist so ein verwilderter Bahndamm, wo die Abenteuer erleben, wo Magie ist, wo es spannend ist, wo sie aus dem Zugriff der Eltern entzogen sind. Und dieser Bahndamm wird ja jetzt platt gemacht, weil da ein Bahnhof gebaut wird, das heißt, das symbolisiert quasi das Ende der Kindheit – beziehungsweise das Buch beginnt ja auch mit einem Tod, mit dem Tod eines Menschen –, also der Tod der Kindheit. Und sie versuchen jetzt, diese Kindheit künstlich zu verlängern, indem sie einen Garten in ihrer Siedlung anlegen wollen, also kultivieren wollen. Das funktioniert natürlich nicht, das muss schiefgehen, weil man kann ja die Kindheit nicht künstlich verlängern, beziehungsweise es ist auch ein Vorgriff auf das spätere, auf das Erwachsenendasein, das Kultivieren, das Einhegen, das Pflegen, und da ist nicht mehr so viel Platz für Spontanes und Wildes und so weiter und so fort. Das wollte ich damit darstellen.
Meyer: Und was ich auch ein ganz starkes Motiv fand, es gibt immer Momente, da sind diese jungen Menschen, die sind so 13, 14, unglaublich selbstgewiss, wissen alles über das Leben beziehungsweise reden so darüber, und im nächsten Moment sind sie zutiefst verunsichert und deswegen auch leicht manipulierbar, also sie tragen ganz stark in sich diese extreme Unsicherheit der Jugend. Das wollten Sie auch vor allem zeigen mit dem Buch?
Höra: Das wollte ich vor allem auch ganz stark zeigen, weil es natürlich auch so eine Aufbruchszeit ist. Zum einen ist da jetzt diese maßlose Selbstüberschätzung, was man alles kann, und man stürmt quasi los, aus der Jugendzeit raus ins Teenager- und Jugendlichendasein, das Erwachsenendasein. Gleichzeitig ist es aber auch ein, also nicht nur ein Vorwärtsstürmen, sondern auch ein Tasten, weil man ja immer noch dieses Sicherheitsnetz, vielleicht auch das elterliche Sicherheitsnetz spürt und die gewohnte Umgebung und das gewohnte Leben, aber es wird eben alles brüchig. Und diese ganzen scharfen Kanten und Ecken, die haben Schutzkappen getragen während der Kindheit, und das verschwindet jetzt natürlich alles. Und ich merke jetzt, indem ich diesen Übergang erlebe, ich bin jetzt auch langsam für mich selbst verantwortlich, muss selber Entscheidungen treffen, und ich muss vor allem auch Verantwortung tragen für das, was ich anrichte.
Wusste mit 13, dass er Schriftsteller werden möchte
Meyer: Ja, was sie anrichten, sie entführen eben einen behinderten Jungen – ich hab's vorhin schon gesagt –, wollen ihn eigentlich für ein paar Stunden nur, um die Mutter zu verschrecken, festhalten. Das entwickelt sich dann ganz anders, das sollten wir vielleicht noch nicht vorwegnehmen. Weil wir gerade über Unsicherheit gesprochen haben: Der Erzähler dieser ganzen Geschichte, Spargel wird er immer genannt, obwohl er es selber überhaupt nicht abkann, diesen Namen, der ist sich einer Sache ganz sicher: Ich will Schriftsteller werden, sagt er mit 13 Jahren. Wussten Sie denn mit in dem Alter, dass Sie Schriftsteller werden wollen?
Höra: Also da kommt wieder so ein autobiografischer Zug zum Tragen. Ich wusste tatsächlich … mit 13, 14 habe ich mir überlegt, ich werde Schriftsteller. Gleichzeitig, diese Sozialbausiedlung, die dort in dem Buch beschrieben wird, das ist quasi ein Teil meiner Kindheit, ich bin da aufgewachsen. In dem Milieu wird man normalerweise nicht unbedingt Schriftsteller, da wird man Schlosser oder Taxifahrer oder Friseur oder Elektriker oder was auch immer – und daher natürlich auch ständige Zweifel. Ich hab mir aber vorgenommen, damals mit 13, 14, ich wusste, du kannst noch nicht schreiben mit meinetwegen 18, 20, sondern du musst erst mal Erfahrung sammeln. Das sagte ich ja eingangs schon, dass ich das für einen Schriftsteller sehr wichtig finde, dass man Erfahrungen hat, die dann eben in die Geschichten einfließen können, und ich hab mir vorgenommen, ich sammle ganz viel Erfahrung, und wenn ich die habe – ich hab mir mal so einen inneren Tank vorgestellt, den ich mit Erfahrung fülle, und wenn der anfängt überzulaufen, dann bist du soweit. Und deswegen habe ich auch erst im, ja, relativ fortgeschrittenen Alter mit über 30 angefangen zu schreiben, weil dann dachte ich, jetzt bist du soweit. Aber die eigentliche Idee hat mich tatsächlich mit 13, 14 wie so ein Schnupfen überfallen, wie so ein hartnäckiger Virus, der mich wegging.
Meyer: Aber da muss ich mal nachfragen, das heißt, mit 13, 14 haben Sie einen Lebensplan gefasst, ich mach jetzt für die nächsten – bis Sie 30 sind – 17 Jahre Erfahrung und dann fang ich an zu schreiben, wahrscheinlich noch nicht so ausgereift.
Höra: Nein, natürlich nicht so detailliert, ich hatte auch überhaupt keine Vorstellung. Ich hab viel gelesen, ich war auch einer der wenigen, die dort in der Siedlung Bücher gelesen haben – meine Freunde haben nicht gelesen. Also ich war jetzt kein Nerd, ich hatte Freunde, tatsächlich, aber ich hab eben viel gelesen, und für diese Siedlung da war das jetzt nicht gewöhnlich. Bei uns zu Hause gab's auch keine Bücher, eine Bibel und ein Kochbuch so ungefähr und irgendwelche Bücher, Gilde-Bücher, ich war aber relativ früh in einer Bücherei und hab viel gelesen. Vielleicht hat das auch den Wunsch ausgelöst. Meine Mutter hat das auch immer sehr gefördert, das Lesen, das war ihr sehr wichtig, und sie hat mich immer anfangs mit Comics und dann später mit anderen Büchern versorgt, und das hat vielleicht auch diesen Wunsch so ein bisschen ausgelöst.
"Kann diesen inneren Jugendlichen in mir gut anzapfen"
Meyer: Ihre Bücher werden oft gelobt für die Nähe zur Lebenswelt der jungen Menschen, von denen Sie da erzählen. Jetzt geht's Ihnen natürlich wie allen anderen Menschen, die eigene Jugend rückt immer weiter weg, biografisch bedingt. Wie machen Sie denn das, diese Nähe immer wieder herzustellen?
Höra: Witzigerweise hatte ich, als ich mir vorgenommen habe zu schreiben beziehungsweise als ich dann auch mein erstes Buch geschrieben habe, das war ja kein Jugendbuch – das war ein Flop, es ist nichts weiter passiert, der Verlag ist dann auch pleite gegangen, hatte dann also mehrere Gründe. Aber dann hat mein damaliger Literaturagent, leider verstorben, Uwe Heldt, mir quasi die Idee eingepflanzt, schreib doch mal Jugendbücher, ich glaube, du kannst das ganz gut. Ich hab dann ein paar Trage überlegt, weil ich wollte eigentlich nie ein Jugendbuch schreiben, und dann hab ich mich aber tatsächlich hingesetzt, und dann entstand eben "Gedisst", also mein erstes Jugendbuch. Beim Schreiben hab ich gemerkt, dass ich ein Stück weit zurückgeblieben bin. Das heißt, ich kann diesen Jugendlichen in mir, diesen 15-Jährigen, 14-, 15-, 16-Jährigen, den kann ich ganz gut anzapfen, der ist irgendwie noch da, und ich kann zurückgreifen auf die Gefühle, auf die Hoffnungen, auf die Ängste, was auch immer, was diesen Jugendlichen damals, der ich damals war, angetrieben hat. Und das benutze ich beim Schreiben, das ist wie so ein Avatar, wenn man so will.
Meyer: Und haben Sie die Idee, warum das bei Ihnen so ist, dass dieser Jugendliche in Ihnen noch so lebendig ist?
Höra: Nee, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist einfach ein Teil von mir unreif geblieben, wie das ja bei vielen Menschen ist. Viele unterdrücken vielleicht ihren inneren Jugendlichen oder ihr inneres Kind und konzentrieren sich völlig aufs Erwachsenenwerden, und irgendwie ist der in mir noch existent. Vielleicht versuch ich ihn ja so ein bisschen zu exorzieren durch die Bücher. Vielleicht gelingt's mir, vielleicht auch nicht, aber dann kann ich auch keine Jugendbücher mehr schreiben.
Meyer: Und dieses erste Jugendbuch, das Sie erwähnt haben, "Gedisst", das ist in einigen Bundesländern, soweit ich weiß, inzwischen Schullektüre. Was heißt das für Sie als Autor?
Sein Buch "Gedisst" ist auch Schullektüre
Höra: Also für mich als Autor ist es natürlich erst mal ne tolle Sache, wenn meine Bücher in Schulen gelesen werden. Ich entschuldige mich hier gleich bei allen Schülern, die da irgendwie Aufsätze drüber schreiben müssen oder was auch immer – ich weiß, das kann sehr quälend sein –, aber es ist natürlich toll, und vor allem werde ich natürlich dann auch viel von Schulen eingeladen für Lesungen.
Meyer: Und das machen Sie gerne?
Höra: Das mache ich gerne. Ich bin relativ viel unterwegs, ich mach so 100, 120 Lesungen pro Jahr, das meiste ist dann wirklich an Schulen, und ich mach das ganz gerne. Ich mag das einfach, ich mag es einfach, zu lesen und zu diskutieren und meine Bücher vorzustellen, das macht mir großen Spaß.
Meyer: Und auch da haben Sie dann wieder Kontakt zu den jungen Menschen, über die Sie dann schreiben.
Höra: Ja, obwohl man muss natürlich sagen, die sind sehr verhalten in dem Alter. Da exponiert man sich jetzt nicht besonders innerhalb der Peergroup und so weiter. Es gibt natürlich die ein oder andere Diskussion, aber meistens hören sie eher zu und tun so, als könnten sie kein Wässerchen trüben.
Meyer: Sie hören dem Jugendbuchautor Daniel Höra zu, "Was wir nicht wollten" heißt sein neuer Roman, im Ueberreuter-Verlag ist er erschienen mit 256 Seiten, 16,95 Euro ist der Preis. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Höra!
Höra: Ja, danke Ihnen, danke für die Einladung!
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