Jugendgewalt
Jugendgewalt ist kein neues Phänomen, keine Ausgeburt des 21. Jahrhunderts. "Ich wollte", lässt Shakespeare in seinem Stück "Wintermärchen" einen alten Schäfer sagen, "ich wollte, es gäbe gar kein Alter zwischen 10 und 23, oder die jungen Leute verschliefen die ganze Zeit: denn dazwischen ist nichts, als den Dirnen Kinder schaffen, die Alten ärgern, stehlen, balgen."
Eben wieder, 400 Jahre nach Shakespeare, hat ein Fall für Aufsehen gesorgt: Drei Schüler aus der Schweiz überfielen auf einer Klassenfahrt nach München wahllos fünf Menschen in der U-Bahn und auf der Straße, schlugen, traten und verletzten sie schwer. Nach dem Gewaltrausch gingen sie in ihre Unterkunft, wechselten die blutigen T-Shirts und setzten sich in aller Ruhe vor den Fernseher. Diese drei 16-Jährigen hätte man gern in shakespeareschem Pubertätswinterschlaf gesehen.
Keine praktisch brauchbare Lösung, und so führt nun die Schweiz jene Debatte, die in Deutschland vor zwei Jahren geführt wurde und die Roland Koch um ein Haar sein Amt als Ministerpräsident von Hessen gekostet hätte: Braucht man ein schärferes Jugendstrafrecht? Mehr Polizei? Mehr Überwachungskameras?
Zweierlei ist irritierend. Zum einen: Die drei Schläger passen nicht in das Schema von jugendlichen Intensivtätern: Sie waren integriert, kommen aus bürgerlichen Verhältnissen und hatten berufliche Perspektiven – nichts also von einer Stellung am Rand der Gesellschaft, die üblicherweise zum Profil von Jugendgewalttätern gehört.
Der andere Grund für Irritation ist, dass wir überhaupt nach solchen Taten sofort auf die Suche nach Gewaltgründen in den Täterbiografien gehen. Als machte eine unglückliche Kindheit erklärbar, warum es zu Gewalt kommt. Gewalt irritiert uns, stört uns, verstört uns. Gewalt leuchtet in die Abseite der Gesellschaft und in jenen Bereich in uns, den wir gern verdrängen oder jedenfalls für grundsätzlich therapierbar halten: ins Dunkle, Unzivilisierte, Brutale. Einerseits. Andererseits löst Gewalt einen gruseligen Schauer aus, jedenfalls wenn sie uns nicht direkt betrifft.
Wir spüren unser Leben umso deutlicher, wenn anderes Leben reduziert ist oder gar blutend verrinnt. "Lebt man denn, wenn andre leben?" So Goethe, ironisch gebrochen; so auch, kaum ironisch, der Gaffer am Unfallort oder der Leser eines reißerischen Artikels über einen Gewalttäter; und ebenfalls nach diesem Motto, nun ohne jeden Hauch von Ironie, der jugendliche Gewalttäter, der auf ein wehrloses Opfer einprügelt. Ich schlage, also bin ich – mächtig und erkennbar, nicht zu übersehen. Jan Philipp Reemtsma, der tiefbohrend wie kaum jemand über das Phänomen Gewalt nachgedacht hat, schreibt, Gewalt sei gerade nicht ein Abbruch von Kommunikation, wie Habermas meint. Gewalt wie diese scheinbar sinnlosen Prügelattacken sind ihrerseits Formen von Kommunikation: Sie verdeutlichen Herrschaft über einen anderen und über seinen Körper. Diese Gewalt drückt, so Reemtsma, den Wunsch nach Allmacht aus: sein wie Gott.
Das gilt es auszuhalten: Gewalt und eine Neigung zum Bösen gehört zum Menschen an sich. Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt, schrieb Immanuel Kant. Defätismus, eine Haltung des "da kann man dann auch nichts machen" darf aber nicht die Folge sein. Wir werden wohl nie eine gewaltfreie Welt erschaffen können. Aber jeder für sich kann etwas beitragen. Etwa indem wir unseren voyeuristischen Blick auf Gewalt zurückdrängen, Gewalttäter nicht noch zu negativen Stars in der Öffentlichkeit machen und ihnen eben jenes Forum geben, das ihre Taten ganz in ihrem Sinne erhöht. Und wir können versuchen, wenigstens Hilfe zu holen, wenn jemand in Not und Bedrängnis gerät, also eben das, was die Mitschüler, das Publikum der drei Schweizer Schläger, nicht taten. Bei aller Faszination, die vom Handelnden, vom Täter ausgeht: Unser Blick muss stärker auf die Opfer gerichtet sein.
Tilmann Lahme, geboren am 3. Mai 1974, verheiratet, drei Kinder, Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie, Dr. phil., Biographie über Golo Mann, Edition der Briefe Golo Manns, Redakteur im Feuilleton der FAZ 2006-2008, lebt in Göttingen als freier Journalist.
Keine praktisch brauchbare Lösung, und so führt nun die Schweiz jene Debatte, die in Deutschland vor zwei Jahren geführt wurde und die Roland Koch um ein Haar sein Amt als Ministerpräsident von Hessen gekostet hätte: Braucht man ein schärferes Jugendstrafrecht? Mehr Polizei? Mehr Überwachungskameras?
Zweierlei ist irritierend. Zum einen: Die drei Schläger passen nicht in das Schema von jugendlichen Intensivtätern: Sie waren integriert, kommen aus bürgerlichen Verhältnissen und hatten berufliche Perspektiven – nichts also von einer Stellung am Rand der Gesellschaft, die üblicherweise zum Profil von Jugendgewalttätern gehört.
Der andere Grund für Irritation ist, dass wir überhaupt nach solchen Taten sofort auf die Suche nach Gewaltgründen in den Täterbiografien gehen. Als machte eine unglückliche Kindheit erklärbar, warum es zu Gewalt kommt. Gewalt irritiert uns, stört uns, verstört uns. Gewalt leuchtet in die Abseite der Gesellschaft und in jenen Bereich in uns, den wir gern verdrängen oder jedenfalls für grundsätzlich therapierbar halten: ins Dunkle, Unzivilisierte, Brutale. Einerseits. Andererseits löst Gewalt einen gruseligen Schauer aus, jedenfalls wenn sie uns nicht direkt betrifft.
Wir spüren unser Leben umso deutlicher, wenn anderes Leben reduziert ist oder gar blutend verrinnt. "Lebt man denn, wenn andre leben?" So Goethe, ironisch gebrochen; so auch, kaum ironisch, der Gaffer am Unfallort oder der Leser eines reißerischen Artikels über einen Gewalttäter; und ebenfalls nach diesem Motto, nun ohne jeden Hauch von Ironie, der jugendliche Gewalttäter, der auf ein wehrloses Opfer einprügelt. Ich schlage, also bin ich – mächtig und erkennbar, nicht zu übersehen. Jan Philipp Reemtsma, der tiefbohrend wie kaum jemand über das Phänomen Gewalt nachgedacht hat, schreibt, Gewalt sei gerade nicht ein Abbruch von Kommunikation, wie Habermas meint. Gewalt wie diese scheinbar sinnlosen Prügelattacken sind ihrerseits Formen von Kommunikation: Sie verdeutlichen Herrschaft über einen anderen und über seinen Körper. Diese Gewalt drückt, so Reemtsma, den Wunsch nach Allmacht aus: sein wie Gott.
Das gilt es auszuhalten: Gewalt und eine Neigung zum Bösen gehört zum Menschen an sich. Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt, schrieb Immanuel Kant. Defätismus, eine Haltung des "da kann man dann auch nichts machen" darf aber nicht die Folge sein. Wir werden wohl nie eine gewaltfreie Welt erschaffen können. Aber jeder für sich kann etwas beitragen. Etwa indem wir unseren voyeuristischen Blick auf Gewalt zurückdrängen, Gewalttäter nicht noch zu negativen Stars in der Öffentlichkeit machen und ihnen eben jenes Forum geben, das ihre Taten ganz in ihrem Sinne erhöht. Und wir können versuchen, wenigstens Hilfe zu holen, wenn jemand in Not und Bedrängnis gerät, also eben das, was die Mitschüler, das Publikum der drei Schweizer Schläger, nicht taten. Bei aller Faszination, die vom Handelnden, vom Täter ausgeht: Unser Blick muss stärker auf die Opfer gerichtet sein.
Tilmann Lahme, geboren am 3. Mai 1974, verheiratet, drei Kinder, Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie, Dr. phil., Biographie über Golo Mann, Edition der Briefe Golo Manns, Redakteur im Feuilleton der FAZ 2006-2008, lebt in Göttingen als freier Journalist.